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Eignungsdiagnostik ist mehr als ein Bauchgefühl : KI als Werkzeug und nicht als Richter

Der Einsatz von KI in der Eignungsdiagnostik ist sinnvoll – solange sie nicht zur alleinigen Entscheidungsinstanz wird. Welche Rolle spielt der Mensch?

4 Min. Lesezeit
rote Figur im Mittelpunlt, umkreist von weißen Figuren, die Künstliche Intelligenz darstellen sollen
Foto: ©AdobeStock/Daniel Coulmann

Eignungsdiagnostik im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz – Effizienz durch Algorithmen, Entscheidungen durch Menschen

Die Auswahl des passenden Personals zählt zu den zentralen Herausforderungen moderner HR-Arbeit. Im Zeitalter digitaler Transformation setzen viele Unternehmen auf Künstliche Intelligenz (KI), um Prozesse effizienter, skalierbarer und vermeintlich objektiver zu gestalten – auch im Bereich der Eignungsdiagnostik. Doch wie viel Verantwortung darf oder sollte man der Maschine überlassen? Und wo bleibt der Mensch in diesem Prozess?

Eignungsdiagnostik: Mehr als Bauchgefühl und Interviewroutine

Die systematische Eignungsdiagnostik ist das Rückgrat valider, nachvollziehbarer und fairer Personalauswahl. Sie zielt darauf ab, die Übereinstimmung zwischen den Anforderungen einer Stelle und den individuellen Eigenschaften eines Bewerbenden möglichst objektiv zu ermitteln. Dies kann mit Hilfe strukturierter Tests, Interviews, Fragebögen oder Simulationen durchgeführt werden. Grundlage sind wissenschaftlich fundierte Methoden aus der Psychologie, die zuverlässig berufliche Leistung prognostizieren können.

Doch in der Unternehmenspraxis wird diese Bedeutung häufig unterschätzt. Viele Recruiter und Führungskräfte verlassen sich alleinig auf Interviewerfahrung, das sogenannte „Bauchgefühl“ oder vergangene Erfolge von zu besetzenden Vakanzen. Das wirkt auf den ersten Blick pragmatisch – birgt jedoch ein hohes Risiko. Subjektive Einschätzungen können durch Sympathieeffekte, Stereotype oder emotionale Tagesform verzerrt sein. So zeigen Studien bereits vor Jahren, dass beispielsweise unstrukturierte Interviews eine deutlich geringere Prognosekraft für beruflichen Erfolg besitzen als strukturierte, eignungsdiagnostisch fundierte Verfahren (Schuler et al., 2014).

Gerade in Zeiten des War for Talents, Remote Work und steigender Diversität ist es entscheidend, sich auf valide Verfahren zu stützen – um Fehlbesetzungen zu vermeiden, heterogene Teams zu fördern und langfristige Mitarbeiterbindung zu sichern.

KI in der Eignungsdiagnostik – Status quo und Potenziale

KI-gestützte Tools in der Personalauswahl sind längst keine Zukunftsmusik mehr. Sie sind in der Lage Bewerbungsunterlagen zu analysieren, Sprachmuster in Videointerviews zu bewerten oder Persönlichkeitstests zu interpretieren. Der Einsatz reicht damit von einfachen Matching-Algorithmen in Bewerbermanagementsystemen bis hin zu komplexen Machine-Learning-Anwendungen, die Verhalten prognostizieren sollen.

Ein Beispiel hierfür ist HireVue, ein System, das mithilfe von Videoanalysen Mimik, Gestik, Wortwahl und Intonation von Bewerbenden interpretiert, um auf deren Eignung zu schließen. Ähnlich arbeitet Precire, das Sprachmuster analysiert und auf psychologische Merkmale schließt – mittlerweile allerdings in der Kritik und deutlich weniger verbreitet.

Das Versprechen: Objektivität und Effizienz. Wo Menschen durch Bias, Müdigkeit oder Vorurteile urteilen, soll die KI neutral bleiben. Wo Personalabteilungen bei einer Vielzahl an (darunter auch häufig unpassende) Bewerbungen an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen, soll die Maschine vorsortieren – und das möglichst schnell, fair, effizient.

Der Mensch im Mittelpunkt: Warum KI nicht allein entscheiden sollte

Trotz aller Fortschritte bleibt das Standing von LUCID EXECUTIVE SOLUTION klar: KI kann unterstützen, aber nicht ersetzen. Sie erkennt Muster – aber sie versteht nicht. Menschliche Potenziale, wie Teamfähigkeit, kulturelle Passung oder Veränderungsbereitschaft, lassen sich nicht allein durch Daten abbilden.

So kann eine KI beispielsweise feststellen, dass ein Bewerber häufig das Wort „Ich“ verwendet. Ob das jedoch auf Selbstbewusstsein oder Egozentrik schließen lässt, ist kontextabhängig – und somit eine Frage menschlicher Interpretation. Ebenso unterliegt jedes Training der KI den Mustern und Verzerrungen der Datengrundlage. Amazon etwa stoppte 2018 ein KI-Recruiting-Tool, weil es Bewerbungen von Frauen systematisch abwertete – auf Basis historischer Daten aus einer zum Großteil männerdominierten Techwelt.

Die Herausforderung lautet also: technologische Effizienz mit menschlicher Urteilskraft zu kombinieren. In der Praxis bedeutet das, dass KI als Entscheidungsunterstützung fungieren kann – aber der finale Auswahlprozess bewusst menschlich bleibt. Die Verantwortung darf nicht an Algorithmen ausgelagert werden.

Neue Entwicklungen: Adaptive Diagnostik, Explainable AI & Fairness by Design

Aktuelle Trends zeigen, dass auch innerhalb der KI-Entwicklung der Fokus zunehmend auf Transparenz und Fairness liegt:

  • Explainable AI (XAI) verfolgt das Ziel, KI-Entscheidungen nachvollziehbar zu machen – etwa durch grafische Aufschlüsselungen, welche Faktoren zur Bewertung führten. Dies ist insbesondere im Personalwesen wichtig, um rechtlich und ethisch abgesichert zu agieren.
  • Fairness by Design beschreibt Ansätze, bei denen Trainingsdaten aktiv auf Diversität und Ausgewogenheit geprüft werden. Unternehmen wie Modern Hire oder Pymetrics werben damit, ihre Tools auf Gender- und Ethnieneutralität geprüft zu haben.
  • Adaptive Eignungsdiagnostik verbindet klassische psychometrische Verfahren mit KI, um Testverfahren situativ anzupassen – etwa durch dynamische Schwierigkeitsgrade oder kontextabhängige Fragengenerierung. Dies erhöht die Individualisierung, reduziert Testlängen und steigert die Validität – wenn sauber umgesetzt.

Doch auch hier gilt: Die Technologie ist nur so gut wie ihr Design. „Black Box“-Modelle ohne Transparenz schaffen Unsicherheit – sowohl bei HR-Fachleuten als auch bei Bewerbenden.

Fazit: KI ist Werkzeug, kein Entscheider

Der Einsatz von KI in der Eignungsdiagnostik ist sinnvoll – solange sie nicht zur alleinigen Entscheidungsinstanz wird. Sie kann Vorurteile reduzieren, Prozesse beschleunigen und Strukturen objektivieren. Doch am Ende braucht es den Menschen, der Potenziale erkennt, Kontext versteht und ethisch handelt.

Die Zukunft liegt nicht im Ersatz, sondern in der Ergänzung: KI als Assistenzsystem, das objektive Daten liefert – und der Mensch als reflektierte Instanz, die auf Basis dieser Daten fundierte Entscheidungen trifft. Nur so wird aus digitaler Effizienz auch nachhaltige Personalarbeit.

 

Autorin: Lena Bundschuh, LUCID EXECUTIVE SOLUTION

 

Quellen:

  • Harvard Business Review (2023): „How AI Is Changing the Hiring Process — and What HR Needs to Know“
  • Dastin, J. (2018): Amazon scraps secret AI recruiting tool that showed bias against women, Reuters
  • Chamorro-Premuzic, T. et al. (2020): „The Promises and Perils of AI in Hiring“, MIT Sloan Management Review
  • Pymetrics (2024): Whitepaper on Bias Mitigation in Algorithmic Hiring
  • Bundesverband der Personalmanager (2023): Leitfaden zu KI und Eignungsdiagnostik
  • Schuler, H., Hell, B., & Trapmann, S. (2014): „Personalauswahl: Ein Lehrbuch auf psychologischer Grundlage“, Hogrefe Verlag

 

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