Neue Kriterien für Produktivität erforderlich
"Ich glaube, es ist an der Zeit, neue Kriterien zu entwickeln, woran wir Produktivität messen. Bereits Anfang 2000 wurde der sogenannte ROWE-Ansatz entwickelt: Result-Only Work Environment. Es kommt darauf an, was erreicht wird, nicht wann und wo und in welcher Zeit."
Frau Hoffmann, wie schwer ist es gegenwärtig, qualifiziertes Personal zu finden?
Bettina Hoffmann: Es kommt darauf an, was Sie mit qualifiziertem Personal meinen: Wenn allgemein vom Fachkräftemangel gesprochen wird, wird meist ausschließlich auf die Fachkompetenzen fokussiert. Das ist meines Erachtens zu kurz gegriffen, aber wir können es für den Moment mal so stehen lassen. Vom Fachkräftemangel sind in der Schweiz vor allem die folgenden Branchen betroffen: IT, Gesundheitswesen, Maschinenbau, Gastgewerbe und Finanzdienstleistungen. Vor allem KMUs, kleinere Verwaltungen und soziale Einrichtungen klagen, dass sie nicht mehr qualifiziertes Personal finden. Aber eigentlich klagen alle, auch die großen Unternehmen, dass es schwierig ist, Fachstellen zu besetzen.
Und wie wird sich das in Zukunft noch ändern?
Hoffmann: Die offene und für viele angstbesetzte Frage ist, welche Arbeitsplätze werden zukünftig durch KI, Robotik und Automatisierung wegfallen? Welche Fachkräfte werden noch gebraucht, respektive nicht mehr gebraucht? Und damit stellt sich eben auch die Frage, welche Kompetenzen in Zukunft gefordert sind. Neben einer digitalen Kompetenz weisen viele Studien darauf hin, dass es in Zukunft noch stärker als heute auf Kompetenzen ankommt, die neben dem Fachwissen vor allem Selbst- und Sozialkompetenzen, aber auch Methodenkompetenzen, wie beispielsweise kritisches Denken, Problemlösungsverhalten, Kreativität und Innovationsfähigkeit umfassen.
Was macht Unternehmen für talentierte Fachkräfte attraktiv?
Hoffmann: Da muss man durchaus unterscheiden, welcher Generation die Fachkräfte angehören. Aber grundsätzlich haben der Wunsch nach Sinnhaftigkeit, Persönlichkeitsentwicklung und einer guten Vereinbarkeit von Arbeits- und Privatleben einen größeren Stellenwert als das früher der Fall war. Der jungen Generation Z wird auch ein hohes Bedürfnis nach Sicherheit zugeschrieben. Alles natürlich unter der Voraussetzung einer angemessenen und fairen Bezahlung.
Aber vollkommen unabhängig davon sehen wir, dass Unternehmen, die sich durch eine besondere Dialog- und Lernkultur auszeichnen und erfolgreich neue Wege der Zusammenarbeit gehen, in aller Regel keine Rekrutierungssorgen haben. Die gelebte Unternehmenskultur und der damit verbundene Ruf des Unternehmens werden immer mehr die Arbeitgeberattraktivität bestimmen.
Vielen Arbeitnehmenden ist heute ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Beruf und Privatleben wichtig. Die Vier-Tage-Woche ist ein viel diskutiertes Thema. Lässt sich dies mit den Bedürfnissen der Wettbewerbsfähigkeit einer Firma vereinbaren?
Hoffmann: Dazu wird gerade eine erste Pilotstudie unter Mitwirkung der Berner Fachhochschule lanciert, die herausfinden möchte, ob und wenn ja unter welchen Bedingungen eine Vier-Tage-Woche zu höherer Produktivität und steigender Gesundheit führen könnte.
Das alte Denkmodell des Stundenlohns stammt ja aus der zweiten Industrialisierung, in der mehrheitlich mit mehr Zeit auch mehr Output generiert wurde. Bei kreativer Denkarbeit stellt sich aber durchaus die Frage, ob mehr Zeit ein guter Gradmesser für Produktivität ist. Die besten Einfälle habe ich beispielsweise häufig beim Joggen, andere unter der Dusche. Ich glaube, es ist an der Zeit, neue Kriterien zu entwickeln, woran wir Produktivität messen. Bereits Anfang 2000 wurde der sogenannte ROWE-Ansatz entwickelt: Result-Only Work Environment. Es kommt darauf an, was erreicht wird, nicht wann und wo und in welcher Zeit.
Sie haben zusammen mit Andrea Barrueto einen Leitfaden für das Design humaner Unternehmen herausgegeben. Was ist die Botschaft des Buches?
Hoffmann: Die zentrale Botschaft des Buches ist, dass das Kulturprinzip Menschlichkeit genau die Kultur beschreibt, auf der die ganzen neuen Methoden von New Work oder Agilität ihre Wirksamkeit entfalten können. Die Einführung der Methoden ohne einen Kulturwandel bringt tatsächlich nur alten Wein in neuen Schläuchen und führt zu Enttäuschung und Frustration.
Was bedeutet es, wenn Organisationen Menschlichkeit zu ihrem Kulturprinzip machen?
Hoffmann: Nach allem, was wir über die Psychologie des Menschen wissen, haben Menschen ein inhärentes Bedürfnis nach Kollaboration, Resonanz, Empathie und Entwicklung. Eine Kultur der Menschlichkeit schafft einen Raum, in dem diese Bedürfnisse als wichtig erachtet werden. Wir haben sieben Teilkulturen beschrieben, die diesen Raum ermöglichen: Achtsamkeits-, Empathie-, Persönlichkeitsentwicklungs-, Verantwortungs-, Feedback-, Fehler- und Konfliktkultur. Eine Kultur der Menschlichkeit schafft einen respektvollen, aber auch herausfordernden Umgang miteinander und mit sich selbst, der von dem Mindset getragen ist, dass Menschen sich entwickeln wollen. Dabei handelt es sich keineswegs um einen Kuschelkurs. Wir lernen nur, wenn wir ermutigt werden, Verantwortung zu übernehmen und immer wieder aufgefordert werden, unsere Komfortzone zu verlassen.
Welche Voraussetzungen braucht es, um die Kultur der Menschlichkeit in einem Unternehmen zu entwickeln und etablieren?
Hoffmann: Ohne die Überzeugung und Bereitschaft der höchsten hierarchischen Ebene, sich mit diesen Themen ernsthaft auseinanderzusetzen und bei sich selbst anzufangen, nützen all die schönen Kulturprozesse nichts. Aber wenn dieses Commitment eingeholt wird, dann ist sehr viel mehr möglich als viele denken.
Interview: Claudia Schmid
Bettina Hoffmann ist HSG Alumna und hat über 18 Jahre Erfahrung als Dozentin und Beraterin in den Bereichen Organisationsentwicklung, Change und Kommunikation. Ihre Leidenschaft ist es, Organisationen zu mehr Agilität, Selbstorganisation und damit in die Welt von New Work zu führen. Sie ist zudem Dozentin an der Universität St.Gallen und der HWZ (Hochschule für Wirtschaft in Zürich).