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Versteckte Talente, verpasste Chancen : Warum Unternehmen Kompetenzen häufig übersehen und teuer dafür bezahlen

Viele Organisationen bewerten Kompetenzen immer noch anhand formeller Titel, Studienabschlüsse oder linearer Lebensläufe. Hierbei kommt ihnen jedoch der sogenannte “Unconscious Skills Bias” in die Quere. Dieses Phänomen beschreibt unbewusste Vorurteile, die wir gegenüber anderen Menschen haben. Ein Beitrag darüber, warum formelle Qualifikationen nicht mehr ausreichen.

5 Min. Lesezeit
Mann steht auf einem Eisberg, man kann nur erahnen, wie viel verstecktes Talent noch in ihm steckt.
Foto: ©AdobeStock/Shehzad

Lebensläufe, Zertifikate und Jobtitel … seit Jahrzehnten bestimmen sie, wie Talente im Bewerbungsprozess beurteilt werden. Doch was, wenn das nicht mehr ausreicht? Wenn Bewerberinnen und Bewerber Fähigkeiten mitbringen, die nicht in ihrem Lebenslauf stehen, obwohl genau diese Fähigkeiten in der Zukunft der Arbeitswelt maßgeblich entscheidend sind? Eine starre, traditionelle Denkweise im Recruiting macht versteckte Fähigkeiten nicht sichtbar und blockiert den Zugang zu echtem Potenzial.

Warum formelle Qualifikationen nicht mehr ausreichen

Die neue Arbeitswelt verändert sich rasant, wobei digitale Technologien, Künstliche Intelligenz und neue Formen der Zusammenarbeit alte Kompetenzmodelle auf den Prüfstand stellen. Laut dem World Economic Forum müssen bis 2027 rund 44 % der aktuellen Arbeitskräfte ihre Fähigkeiten signifikant weiterentwickeln. Gleichzeitig klagen Unternehmen schon seit längerem über offene Stellen, die monatelang unbesetzt bleiben. Die StepStone-Studie zu Recruiting Trends in 2025 zeigte auf, dass Stellen bis zu 180 Tage unbesetzt bleiben können, daraus ergibt sich ein neues Jahreshoch. Bleiben Stellen zu lange unbesetzt, machen Unternehmen erheblichen Verlust. Die größte Herausforderung für die Befragten sei es, die von ihnen benötigte Kompetenzen ausfindig zu machen.  Dabei mangelt es nicht zwingend an passenden Kandidat*innen, sondern an einer anderen Perspektive auf ihre Fähigkeiten.

Das Problem liegt darin, dass viele Organisationen Kompetenzen immer noch anhand formeller Titel, Studienabschlüsse oder linearer Lebensläufe bewerten. Hierbei kommt ihnen jedoch der sogenannte “Unconscious Skills Bias” in die Quere. Dieses Phänomen beschreibt unbewusste Vorurteile, die wir gegenüber anderen Menschen haben. Hierbei handelt es sich um ein erlerntes Verhalten, welches so tief-verankert ist, dass es sich auch unbewusst in unserem Handeln zeigt. Sozusagen “Denkfehler”, die automatisch und unreflektiert ablaufen. Sie sorgen dafür, dass sogenannte “Hidden Skills” übersehen werden. Also Fähigkeiten, die eine Person besitzt, jedoch nicht bewusst zeigt oder ohne Zertifikate erworben hat. Beispielsweise Empathie, Kommunikation, Konfliktlösung oder auch Fingerfertigkeit.

Skills statt Stellenbeschreibungen – Ein Perspektivenwechsel in der Talentstrategie

Diesem Bias kommen Unternehmen zuvor, indem nicht nur auf Titel geschaut wird, sondern auch auf tatsächliche Fähigkeiten. Diese könnten beispielsweise auch außerhalb der beruflichen Laufbahn oder akademischen Kontext durch Bewerber*innen erworben worden sein, ganz ohne Zertifikat. Genau hier setzt ein Skills-basierter Ansatz an. So entsteht eine dynamische, gerechte Talententwicklung, die gleichzeitig hilft den Fachkräftemangel aktiv zu bekämpfen.

Wer Fähigkeiten erkennt, bevor sie auf dem Papier stehen, sichert sich einen Wettbewerbsvorteil; egal ob es sich dabei um sicheren Umgang mit Data, UX Design oder Empathie und Teamgeist handelt. Dies sind Zukunftskompetenzen, die sich weder im Lebenslauf noch in Stellenausschreibungen unterbringen und beweisen lassen. Trotzdem, oder vielleicht auch deshalb sind sie erfolgsentscheidend.

Allerdings geht es nicht nur darum, vorhandene Kompetenzen, sondern auch vorhandenes Potenzial zu erkennen. Dies entscheidet, ob sich die Bewerberin bzw der Bewerber im Unternehmen positiv entwickeln wird. Besonderes Augenmerk ist hierbei auf Attribute wie Lernbereitschaft, Teamfähigkeit und Problemlösefähigkeit zu legen. Sinnvoll ist es außerdem, sich nach Interessen der bewerbenden Person zu erkundigen, aus denen sich zukünftig Skills im Berufsalltag entwickeln lassen. Haben Bewerberinnen und Bewerber bereits Interesse an Computern, so lassen sich Fähigkeiten im Umgang mit Software durch Weiterbildungen schneller ausbauen.

Wichtig ist es bei der Kandidatenbewertung perspektivisch zu denken, ihr Potenzial also im Kopf zu behalten. Mitarbeitende müssen die Möglichkeit haben, sich im Unternehmen weiterzuentwickeln, nur so kann sich das gesamte Unternehmen entwickeln. 

So wird Skills Bias sichtbar und überwindbar

Welche Möglichkeiten haben Unternehmen, diese unbewussten Denkfehler aufzudecken und zu beheben?

  1. Skill-Mapping statt Silodenken:

Anstatt sich an starren Karrierepfaden zu orientieren, sollten Unternehmen Kompetenzlandkarten erstellen. Für diesen Zweck sind KI-gestützte Programme besonders sinnvoll. Sie analysieren vorhandene Fähigkeiten, Potenzial und zu füllende Lücken im Unternehmen. So wird der Prozess deutlich vereinfacht und die Kompetenzlandkarten zeigen auf, welche Fähigkeiten im Unternehmen vorhanden sind bzw. welche gebraucht werden. Unabhängig von der Abteilung oder Funktion wird so das interne Potenzial sichtbar und gezielt einsetzbar.

2. Potenzialorientiertes Recruiting:

Moderne Assessment-Tools und KI-gestützte Analysen können helfen, Talente jenseits formaler Qualifikationen zu erkennen. Virtual-Reality(VR)- oder Augmented-Reality(AR)-Simulationen können helfen, die Bewerbenden und die Belegschaft in Arbeitsalltag ähnlichen Situationen zu erleben und so beispielsweise ihre Problemlösefähigkeiten aufdecken.

3. Interne Mobilität fördern

Warum sollte jemand aus dem Kundenservice nicht in die Produktentwicklung wechseln können? Skill-basierte Talentstrategien ermöglichen es Mitarbeitenden, sich entlang ihrer Stärken weiterzuentwickeln. So werden Motivation, Innovationskraft und letztlich auch die Mitarbeitendenbindung gestärkt.

4. Bias-Awareness in Führung und HR

Unbewusste Vorannahmen sind menschlich, aber nicht unveränderbar. Trainings, offene Feedbackstrukturen und diverse Entscheidungsteams helfen, blinde Flecken zu erkennen und die Basis für faire Talententscheidungen zu legen.

Warum Skills und Kultur zusammengehören

Ein systematischer Blick auf Skills ist mehr als ein HR-Trend. Er verändert, wie Organisationen arbeiten, lernen und führen. Wenn Fähigkeiten wichtiger werden als Positionen, verschiebt sich auch das Machtgefüge. Lernbereitschaft wird zum Karrierebooster, lebenslanges Lernen zur Norm, Hierarchien werden zu Lernnetzwerken.

Doch Veränderungen erfordern Mut und neue Strukturen, die Raum für diese Entwicklung bieten. Feedbackkultur, Transparenz über Lernpfade und die gezielte Förderung von interdisziplinären Teams sind zentrale Bausteine für eine zukunftsfähige Skill-Kultur.

Der Fachkräftemangel ist real, aber nicht alternativlos. Die eigentliche Lücke liegt oft nicht in den Skills selbst, sondern in unserer Fähigkeit, sie zu erkennen. Wer den Mut hat, über Jobtitel hinauszudenken, aktiviert nicht nur verborgene Potenziale, sondern schafft auch eine gerechtere und anpassungsfähige Arbeitswelt.

Organisationen, die bereit sind, unbewusste Bias zu reflektieren und Kompetenzen neu zu bewerten, investieren nicht nur in ihre Personalstrategie, sondern in kulturellen Fortschritt. 

Denn am Ende entscheidet nicht das Zertifikat, sondern die Fähigkeit, Wandel mitzugestalten.

Thorsten Rusch

Über den Autor

Thorsten Rusch ist Senior Director Solution Consulting für DACH, Nord- und Osteuropa bei Cornerstone. Mit über 17 Jahren Erfahrung im HR-Tech-Bereich ist er ein Experte darin, Unternehmen dabei zu unterstützen, ihre Mitarbeiterentwicklung und -verwaltung so zu gestalten, dass sie den ständig wechselnden Anforderungen des Marktes gerecht werden. Sein besonderes Augenmerk liegt darauf, Unternehmen zu helfen, ihre Belegschaft flexibler und anpassungsfähiger zu machen, um auf die dynamischen Veränderungen in der Geschäftswelt reagieren zu können. Dabei setzt er gezielt auf die Integration fortschrittlicher Technologien wie KI, um Arbeitsprozesse zu optimieren und gleichzeitig ein motivierendes und unterstützendes Arbeitsumfeld zu schaffen.

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