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Präparation statt Stagnation : Recruiting-Strategie in ruhigen Phasen optimieren

In wirtschaftlich ruhigeren Zeiten drosseln viele Unternehmen ihre Personalgewinnung. Warum dieser Impuls aber kurzsichtig ist, erläutert Michael Witt, Berater für Recruiting-Strategie und Organisationsentwicklung.

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Fuchs mit roter Sonnenbrille vor türkisfarbenem Hintergrund
Foto: ©AdobeStock/Aleksandr

Hiring Freeze? Die klügsten Unternehmen nutzen die Konjunkturpause für einen Recruiting-Vorsprung.

In wirtschaftlich ruhigeren Zeiten drosseln viele Unternehmen ihre Personalgewinnung. Auf den ersten Blick scheint das eine vernünftige Entscheidung zu sein, denn der Einstellungsstopp gilt als bewährtes Mittel, um kurzfristig Kosten zu senken. Tatsächlich ist dieser Impuls aber kurzsichtig. Wer lediglich auf die Konjunktur reagiert, statt strategisch zu handeln, riskiert langfristige Stagnation.

Gerade ruhige Phasen bieten Potenzial, das im operativen Tagesgeschäft häufig verloren geht. Genau dann heißt es: die eigene Recruiting-Strategie überprüfen, Prozesse neu aufsetzen, Kompetenzen ausbauen und sich auf künftige Bedarfe vorbereiten. Wer diese Zeit für strategische Weiterentwicklung nutzt, verschafft sich im nächsten Aufschwung einen klaren Vorsprung und vermeidet es, vom Wettbewerb abgehängt zu werden.

Recruiting-Reife kritisch hinterfragen

Der Ausgangspunkt jeder Optimierung liegt in einer ehrlichen Bestandsaufnahme. Viele Unternehmen unterschätzen, wie sehr sich Recruiting-Abläufe über die Jahre festfahren. Gerade in ruhigeren Phasen lohnt es sich, die eigene Recruiting-Reife systematisch zu analysieren.

Ein bewährter Ansatz ist der Einsatz eines Reifegradmodells, das Kernbereiche wie Prozessklarheit, Toolnutzung, Zusammenarbeit mit Fachbereichen und analytische Fähigkeiten bewertet. Das Ergebnis sind keine abstrakten Charts, sondern konkrete Handlungsfelder mit Rückschlüssen auf die eigene Leistungsfähigkeit. In der Praxis zeigt sich regelmäßig, dass HR-Teams allein durch die strukturierte Reflexion ihrer Reifegrade einen klareren Blick auf Schwächen gewinnen. So können sie gezielt dort ansetzen, wo mit kleinen Veränderungen große Wirkung erzielt werden kann.

Prozesse verstehen, bevor man digitalisiert

Wer über Optimierung spricht, kommt an der Digitalisierung nicht vorbei. Neue Technologien sind entscheidend für die Zukunftsfähigkeit des Recruitings. Wichtig ist jedoch, dass Technologie auf stabile Prozesse trifft. Wer in IT-Lösungen investiert, bevor die Ursachen von Problemen klar sind, bekämpft nur Symptome.

Der erste Schritt muss daher immer eine fundierte Analyse sein. Wo treten Medienbrüche auf? Wer ist in welchem Prozessschritt verantwortlich? Wie lange dauert der Bewerbungsprozess vom Erstkontakt bis zur Zusage wirklich? Erst wenn diese Fragen beantwortet sind, kann gezielt in passende Lösungen investiert werden.

Ein Beispiel aus der Praxis: In einem Industrieunternehmen mit 3000 Mitarbeitenden zeigte ein gemeinsamer Workshop mit HR und IT, dass die Rückmeldung der Fachabteilungen im Schnitt zehn Tage dauerte. Die Lösung lag nicht in einer KI-gestützten Matching-Software, sondern in klaren Zuständigkeiten und einem verbindlichen RACI-Modell. Das RACI-Modell definiert dabei, wer Responsible (durchführungsverantwortlich), Accountable (ergebnisverantwortlich), Consulted (zu konsultieren) und Informed (zu informieren) ist, so entstehen keine Unklarheiten mehr darüber, wer bis wann welche Entscheidung treffen muss. Entscheidend ist: Technologie sollte niemals eine Reaktion auf einen Trend sein, sondern immer die Antwort auf ein klar identifiziertes Problem.

Alte Gewohnheiten ablegen und Kanäle neu aufstellen

Neben Prozessen lohnt sich in ruhigen Zeiten auch der kritische Blick auf die genutzten Kanäle. Recruiting-Kanäle sind schnell aufgezählt, werden aber selten gründlich analysiert. LinkedIn, Stepstone, Active Sourcing, Karriereseite und Personalmarketing sind nur einige Beispiele. Das Angebot ist breit, aber nicht automatisch wirksam. Die zentrale Frage lautet: Passen die Kanäle wirklich zur jeweiligen Zielgruppe? Und gibt es ein abgestuftes Vorgehen je nach Rolle und Relevanz?

Häufig zeigt sich, dass traditionelle Jobbörsen bei spezialisierten Rollen wenig Erfolg bringen, während der systematische Aufbau eines Talentpools mit aktivem Community-Management deutlich bessere Ergebnisse liefert. So könnte man die Zielgruppe zum Beispiel mit einem Newsletter versorgen und sie aktiv auf aktuelle Stellen aufmerksam machen. Die Time-to-Hire verkürzt sich merklich, wenn Unternehmen bereits einen Pool qualifizierter Kandidaten pflegen, statt bei jeder Vakanz von null zu beginnen. Solche Erkenntnisse entstehen selten unter Alltagsdruck, sie brauchen Raum für Analyse und Planung.

Talentpools differenziert betrachten und strategisch nutzen

Talentpools selbst müssen aber auch differenziert betrachtet werden. Sie gelten oft als Allzwecklösung, doch häufig fehlen Zielklarheit und Struktur. Das beginnt bei der Unterscheidung zwischen operativen und strategischen Pools. Ein operativer Pool soll kurzfristige Vakanzen bedienen, während ein strategischer Pool langfristig auf den Aufbau kritischer Rollen zielt. Ohne diese Unterscheidung wird der Pool schnell zu einem Sammelbecken ohne Wirkung.

Besonders wertvoll ist der Aufbau eines Second-Best-Pools aus qualifizierten Bewerbenden, die im Auswahlverfahren nur knapp unterlegen waren. Durch strukturierte Nachbetreuung und regelmäßige Updates lassen sich aus dieser Gruppe häufig sehr gute Besetzungen erzielen – vor allem in Bereichen mit hoher Fluktuation. Wichtig bleibt: Ein Talentpool ist kein Selbstläufer. Er muss aktiv gepflegt und systematisch genutzt werden. Andernfalls verkommt er zur Karteileiche.

Technologieeinsatz mit Fokus auf Prozessnutzen

Neben der Auswahl geeigneter Kanäle und Formate stellt sich auch die Frage: Wie gut passen unsere Tools zu unseren Zielen? Nicht jede technische Lösung bringt Mehrwert, und Automatisierung ist kein Selbstzweck. Entscheidend ist, dass Technologie dort greift, wo sie reale Effizienzgewinne schafft. Etwa durch die Reduktion manueller Übergaben, die Automatisierung repetitiver Aufgaben oder die Beschleunigung interner Abstimmungen.

In Workshops mit HR- und IT-Teams hat sich ein pragmatisches Vorgehen bewährt. Zunächst werden Zeitfresser und Wiederholungen identifiziert. Danach folgt die Frage: Welche dieser Aufgaben lassen sich durch Technologie lösen, und was bringt das konkret in Euro, Zeit oder Qualität? Erst dann beginnt die Auswahl geeigneter Tools.

Dieses Vorgehen vermeidet Impulskäufe, sorgt für Klarheit im Tool-Dschungel und stellt sicher, dass der tatsächliche Nutzen im Mittelpunkt steht, nicht der technologische Hype.

Zukunftsorientierte Kompetenzen

Neben Tools und Prozessen spielen die Fähigkeiten im Team eine zentrale Rolle. Moderne Recruiting-Organisationen müssen mehr leisten als früher: Sourcing, Marktanalyse, Kommunikation, Dateninterpretation und Stakeholder-Management. Generalisten stoßen dabei oft an Grenzen.

Ein gezielter Kompetenzaufbau hilft, diesen Anforderungen gerecht zu werden. In der Praxis hat sich ein strukturierter Ansatz bewährt: Mit einer klaren Skill-Matrix, definierten Rollenprofilen und individuellen Lernpfaden lassen sich Qualifikationslücken schließen. Besonders effektiv ist es, Recruiting-Funktionen entlang des Wertschöpfungsprozesses zu differenzieren, etwa für Kandidatenrecherche oder Talentpflege. So entstehen klare Zuständigkeiten, bessere Beratung und neue Entwicklungspfade im Team.

Recruiting mit Richtung

Am Ende braucht es neben operativen Maßnahmen auch ein strategisches Zielbild. Es hilft Recruiting-Teams, kurzfristige Entscheidungen im größeren Zusammenhang zu sehen. Wie soll Recruiting im Jahr 2030 aussehen? Welche Rollen, Tools und Schnittstellen brauchen wir? In Workshops oder Retrospektiven lassen sich solche Fragen konkretisieren. Zielbilder schaffen Orientierung, machen Prioritäten sichtbar und geben der täglichen Arbeit Richtung. Gerade in Veränderungsphasen hilft ein solches Zukunftsbild, um nicht nur zu reagieren, sondern bewusst zu gestalten.

Vorbauen statt aufholen

Wenn die Konjunktur wieder anzieht, ist der Spielraum für grundlegende Neuausrichtung oft vorbei. Dann zählen Geschwindigkeit, Marktpräsenz und interne Effizienz. Wer in ruhigeren Zeiten die richtigen Weichen stellt, rekrutiert langfristig mit mehr Erfolg.

Deshalb gilt: Jetzt Prozesse analysieren. Jetzt Kanäle bewerten. Jetzt Kompetenzen entwickeln. Die Pause ist kein Stillstand, sondern eine Chance für nachhaltiges Wachstum. Wer heute strategisch vorbaut, spart Zeit und Geld und sichert sich den Vorsprung im Wettbewerb um Talente.

Michael Witt

Über Michael Witt:
Michael Witt ist Berater für Recruiting-Strategie und Organisationsentwicklung. Seit 2018 selbstständig, begleitet er Unternehmen bei Veränderungsprojekten im Bereich Recruiting und Personalmarketing. Mit über 20 Jahren Erfahrung, darunter 13 Jahre in konzeptionellen und strategischen Rollen sowie über 7 Jahre in leitenden Funktionen, bringt er umfassendes Wissen in die Beratung ein. Er ist Initiator und Veranstalter von Events wie der HR-TecNight und dem Recruiter Slam. Zu seinen Kunden zählen LBBW, eyes and more, dm Österreich, SITS Germany und Voestalpine.

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