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Fehlendes Präventionsverfahren als Unwirksamkeitsgrund für Kündigungen in der Wartezeit?

In dem vom LAG Köln entschiedenen Fall klagte ein schwerbehinderter Arbeitnehmer gegen seine Kündigung in der Wartezeit. Der Arbeitnehmer, dessen Grad der Behinderung (GdB) zunächst bei 90, später bei 80 lag, war dabei als Bauhofmitarbeiter tätig. Die Arbeitgeberin führte an, dass er sich in verschiedenen Einsatzbereichen aufgrund von Leistungsmängeln und Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit nicht bewährt habe.

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Frau mit Behinderung im Rollstuhl
Foto: ©AdobeStock/Robert Kneschke

Das LAG Köln fordert ein Präventionsverfahren für schwerbehinderte Mitarbeiter schon während der Wartezeit. Was bedeutet das für Arbeitgeber?

Der Gesetzgeber versucht bekanntlich an vielen Stellen, die Nachteile für schwerbehinderte Menschen im Arbeitsleben durch besondere Schutzbestimmungen ein Stück weit auszugleichen. Bekanntestes Beispiel hierfür ist der besondere Kündigungsschutz, wonach im Grundsatz – eine besonders relevante Ausnahme ist die Kündigung innerhalb der kündigungsschutzrechtlichen Wartezeit – die Zustimmung des Integrationsamtes vor einer arbeitgeberseitigen Kündigung erlangt werden muss.

Ein (in der Praxis häufig nicht so bekanntes) Verfahren, das bereits Kündigungsentscheidungen vermeiden soll, ist das Präventionsverfahren für schwerbehinderte und diesen gleichgestellte behinderte Beschäftigte (§ 167 Abs. 1 SGB IX). Dieses Verfahren dient dazu, dass der Arbeitgeber* bei Schwierigkeiten, die das Arbeitsverhältnis gefährden könnten, frühzeitig mit der Schwerbehindertenvertretung, dem Betriebsrat (sofern diese Gremien im Betrieb eingerichtet sind) sowie dem Integrationsamt Maßnahmen zur Arbeitsplatzsicherung erörtert, um das Arbeitsverhältnis möglichst dauerhaft fortzusetzen.

Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) greift die Verpflichtung zur Durchführung eines solchen Präventionsverfahrens dabei erst nach Ablauf der sechsmonatigen Wartezeit gemäß § 1 Abs. 1 KSchG (BAG, Urteil v. 21. April 2016 – 8 AZR 402/14 noch zur Vorgängernorm § 84 Abs. 1 SGB IX). Ein wesentliches Argument hierfür ist der in dieser Zeitspanne bekanntlich allgemein geringe Bestandsschutz.

Auch nach dieser Zeit führt eine etwaige Nichtdurchführung des Präventionsverfahrens aus Sicht des BAG (BAG, Urteil v. 7. Dezember 2006 – 2 AZR 182/06) übrigens nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung, kann aber im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu Lasten des Arbeitgebers berücksichtigt werden und damit im Einzelfall dann doch die Kündigung „zu Fall bringen“.

Ein Urteil des Landesarbeitsgerichts (LAG) Köln (Urteil v. 12. September 2024 – 6 SLa 76/24), das abweichend von der bisherigen BAG-Rechtsprechung eine Verpflichtung zur Durchführung des Präventionsverfahrens auch während der ersten sechs Monate eines Arbeitsverhältnisses annimmt, bietet Anlass, sich mit dieser Thematik etwas näher auseinanderzusetzen.

Sachverhalt: Kündigung eines schwerbehinderten Mitarbeiters während der Wartezeit

In dem vom LAG Köln entschiedenen Fall klagte ein schwerbehinderter Arbeitnehmer gegen seine Kündigung in der Wartezeit. Der Arbeitnehmer, dessen Grad der Behinderung (GdB) zunächst bei 90, später bei 80 lag, war dabei als Bauhofmitarbeiter tätig. Die Arbeitgeberin führte an, dass er sich in verschiedenen Einsatzbereichen aufgrund von Leistungsmängeln und Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit nicht bewährt habe. Der Arbeitnehmer beanstandete im Rahmen der Kündigungsschutzklage, dass die Arbeitgeberin trotz seiner Schwerbehinderung kein Präventionsverfahren durchgeführt habe.

Entscheidung: Präventionsverfahren auch während der Wartezeit

Das LAG Köln entschied zunächst, dass das Präventionsverfahren auch während der Wartezeit durchzuführen sei. Arbeitgeber seien demnach immer dann verpflichtet, bei schwerbehinderten bzw. gleichgestellten Arbeitnehmern ein Präventionsverfahren durchzuführen, sobald (personen-, verhaltens- oder betriebsbedingte) Schwierigkeiten im Arbeitsverhältnis auftreten, die das Bestehen des Arbeitsverhältnisses gefährden könnten. Weitere Voraussetzungen für ein solches Verfahren stelle § 167 Abs. 1 SGB IX nicht auf. Die Schwelle für solche Schwierigkeiten ist dabei niedrig; sie brauchen aufgrund des präventiven Ansatzes gerade nicht das Gewicht eines Kündigungsgrundes haben. Das Gericht führt weiter aus, dass für eine Pflicht zur Einleitung des Verfahrens auch in der Wartezeit u. a. Wortlaut und Systematik der gesetzlichen Regelung sprechen würden. Andererseits rechtfertigten auch mögliche praktische Schwierigkeiten hinsichtlich der Durchführung des Präventionsverfahrens in den ersten Monaten einer Tätigkeit aus Sicht des LAG Köln – entgegen dem BAG – gerade keine zeitliche Einschränkung der Pflicht zur Durchführung des Verfahrens.

Allerdings stellte das LAG Köln – insoweit im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung des BAG – klar, dass eine Kündigung bei unterlassenem Präventionsverfahren nicht „automatisch“ unwirksam sei. Fehle ein solches Verfahren, liege zwar der Verdacht nahe, dass der Arbeitgeber den schwerbehinderten Arbeitnehmer gerade wegen seiner Behinderung im Sinne des allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) benachteiligt habe, was eine Diskriminierung indiziert (§ 22 AGG). Daher müsse der Arbeitgeber grundsätzlich nachweisen, dass die Kündigung unabhängig von der Behinderung ausgesprochen wurde. Dabei komme ihm aber – aufgrund der auch von den Kölner Richtern gesehenen erheblichen praktischen Probleme im Zusammenspiel von Wartezeit, besonderer „Überwachung“ von schwerbehinderten Mitarbeitern und Präventionsverfahren – ein abgesenkter Maßstab hinsichtlich der Darlegungs- und Beweislast zugute. In dem konkreten Fall konnte die Arbeitgeberin diesen Nachweis tatsächlich erbringen, und das Gericht bestätigte die Wirksamkeit der Kündigung. 

Bewertung und Ausblick: Vorsorgliche Durchführung des Präventionsverfahrens?

Die Ansicht des LAG Köln, dass ein Präventionsverfahren im Vorfeld einer Wartezeitkündigung eingeleitet (und möglichst auch durchgeführt) werden müsse, ist zunächst in praktischer Hinsicht aufgrund des meist bestehenden Zeitdrucks einer solchen Kündigung völlig unrealistisch. So führt das LAG Köln selbst aus, dass sich typischerweise das Zeitfenster zur ordnungsgemäßen Durchführung des Präventionsverfahrens Anfang des zweiten Monats (!) öffne und am Ende desselben Monats auch wieder schließe. Viele Arbeitgeber werden sich deshalb in der Situation wiederfinden, in der Wartezeit – typischerweise kurz vor ihrem Ende – eine Kündigung aussprechen zu wollen, schlicht ohne ausreichend Zeit für ein (sinnvolles) Präventionsverfahren zu haben.

Unter Zugrundelegung der Auffassung der Kölner Richter würde sich für die Arbeitgeberseite die Notwendigkeit ergeben, bereits zu Beginn des Arbeitsverhältnisses und bei kleineren Schwierigkeiten ein formelles Verfahren in einer „großen Runde“ anzustoßen und ggf. hierdurch das Arbeitsverhältnis in der Anfangszeit enorm zu belasten. Sinn und Zweck der sechsmonatigen Wartezeit ist demgegenüber gerade, dass der Arbeitgeber ohne formelle Anforderungen ausloten darf, ob eine Fortsetzung der Zusammenarbeit darüber hinaus sinnvoll ist.

Die AGG-rechtliche Lösung des LAG Köln erscheint ebenfalls angreifbar. Denn ebenso wie man die Nichtdurchführung eines Präventionsverfahrens als vermutungsbegründendes Indiz für eine Benachteiligung wegen einer Behinderung deuten kann, könnte man auch die „intensivere Kontrolle“ von schwerbehinderten oder diesen gleichgestellten Menschen als Indiz für eine Benachteiligung deuten.

Eine Klarstellung durch den Gesetzgeber ist derzeit wohl nicht zu erwarten. Bis zur Klärung durch das BAG sollten Arbeitgeber unter Beachtung der Rechtsauffassung des LAG Köln– wenn möglich – bei Schwierigkeiten im Arbeitsverhältnis mit schwerbehinderten oder diesen gleichgestellten Menschen frühzeitig ein Präventionsverfahren anstoßen, um eine etwaige Kündigung rechtssicher aussprechen zu können. Sofern dies nicht (sinnvoll) möglich ist (bspw. bei Betriebsstilllegungen oder Schwierigkeiten, die sich erst kurz vor Ablauf des Sechsmonatszeitraums zeigen), sollte bei dem Ausspruch von Wartezeitkündigungen ohne Durchführung von Präventionsverfahren ein besonderes Augenmerk darauf gelegt werden, wie im Einzelfall das hierin aus Sicht der Kölner Richter liegende Indiz einer Benachteiligung widerlegt werden kann. 

* Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem CMS-Blog.

 

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Tobias Polloczek berät deutsche und internationale Unternehmen zu allen Fragen des Individual- und Kollektivarbeitsrechts. Ein besonderer Schwerpunkt seiner Tätigkeit bilden arbeitsrechtliche Umstrukturierungen und Transaktionen und der Bereich Compliance. Zu diesen Themen berät er laufend, häufig auch im Kontext von Sanierungen und Insolvenzen. Tobias Polloczek verfügt auch über spezielle Expertise und Erfahrung bei den vielfältigen arbeitsrechtlichen Fragen in grenzüberschreitenden Projekten und europarechtlichen Themen. Er ist Co-Head des Exzellenzclusters „Transformation / Umstrukturierung“ und Mitglied des Exzellenzcluster „Financial Institutions“.

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Maren Hoffmann berät zum individuellen und kollektiven Arbeitsrecht. Einen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit macht die Gestaltung von Arbeitsverträgen aus. Darüber hinaus berät sie zum Beschäftigtendatenschutz sowie zu Rechtsfragen rund um das Thema Diskriminierung.

Maren Hoffmann war zunächst ein Jahr als Rechtsanwältin in einer mittelständischen Kanzlei tätig und wechselte 2019 zu CMS.

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