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Digitale Barrierefreiheit : Diese 5 Jobs werden jetzt noch wichtiger

Seit Juni 2025 ist digitale Barrierefreiheit keine Kür mehr – sondern gesetzliche Pflicht. Wie sehen neue Berufsbilder aus?

5 Min. Lesezeit
Symbole der Barrierefreiheit vor dem Laptop
Foto: ©AdobeStock/sh99

Seit Juni 2025 ist digitale Barrierefreiheit keine Kür mehr – sondern gesetzliche Pflicht. Der European Accessibility Act (EAA) verändert, wie digitale Produkte entwickelt werden. Und er schafft neue Berufsbilder, die über den klassischen IT-Bereich hinausgehen.

Seit dem 28. Juni 2025 gilt in der Europäischen Union der European Accessibility Act – in Deutschland umgesetzt durch das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz. Damit sind viele Unternehmen verpflichtet, ihre digitalen Angebote barrierefrei zu gestalten. Betroffen sind unter anderem Online-Shops, Banken, Mobilitätsanbieter, Softwareentwickler, E-Book-Plattformen und viele mehr. Was bisher als freiwillige Leistung galt, ist nun verbindlicher Standard – und verändert damit auch die Anforderungen an Teams und Personalstrukturen.

Konkret bedeutet das: Digitale Anwendungen müssen für alle Menschen zugänglich sein – auch für jene mit Seh-, Hör-, kognitiven oder motorischen Einschränkungen. Die technischen Anforderungen orientieren sich an den Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) sowie dem EU-Standard EN 301 549. Diese fordern unter anderem eine Navigation per Tastatur, ausreichende Farbkontraste, Alt-Texte für Bilder sowie die Kompatibilität mit Screenreadern. Unternehmen, die diese Standards nicht erfüllen, drohen künftig Bußgelder – und ein erheblicher Reputationsverlust.

Zwischen Technik und Haltung: Was Barrierefreiheit wirklich bedeutet

Darüber hinaus ist digitale Barrierefreiheit auch ein wirtschaftlicher Faktor. Weltweit leben über 1,3 Milliarden Menschen mit Behinderungen. Eine riesige Zielgruppe mit einer Kaufkraft 2,3 Billionen Euro alleine in der EU jährlich. Wer digitale Barrierefreiheit ernst nimmt, schließt niemanden aus, sondern öffnet sich neuen Märkten und Nutzungsrealitäten. Gleichzeitig wird Barrierefreiheit immer stärker als ethischer Standard verstanden, an dem sich Unternehmen nicht nur von Regulierungsbehörden, sondern auch von Kund:innen, Investor:innen und Talenten messen lassen müssen. Barrierefreiheit ist damit kein reines Compliance-Kriterium mehr, sondern auch ein Qualitätsmerkmal.

Denn Barrierefreiheit sollte sich nicht alleine in der Umsetzung technischer Anforderungen erschöpfen. Sie ist vor allem eine Frage der Haltung. Es reicht nicht, Kontraste zu optimieren oder Alt-Texte zu hinterlegen. Ein digitales Angebot kann formal konform sein und dennoch unverständlich, unübersichtlich oder frustrierend in der Nutzung. Stattdessen sollten digitale Erlebnisse wie vorgesehen funktionieren und für alle Nutzer:innen gut funktionieren.

Deshalb geht es in der Praxis darum, Barrierefreiheit ganzheitlich zu denken: als Kombination aus Standards, Nutzerfreundlichkeit und gesellschaftlicher Verantwortung. So wichtig technische Standards auch sind, ohne eine gelebte inklusive Kultur bleiben sie oberflächlich. Denn erst, wenn die Nutzungserfahrung ganzheitlich gedacht wird, entsteht echte Teilhabe. Und die beginnt im Unternehmen selbst: mit inklusiver Sprache, barrierefreien Arbeitsplätzen, divers zusammengesetzten Teams – und der bewussten Entscheidung, Menschen mit Behinderungen nicht nur einzubeziehen, sondern aktiv einzustellen. Wer Vielfalt ernst nimmt, muss sie auch in der Produktentwicklung und im Personal abbilden.

Fünf neue Jobprofile: Diese Berufe ermöglichen digitale Teilhabe

Mit der neuen Rechtslage und sich wandelnden Anforderungen an digitale Produkte werden neue Berufsbilder und Kompetenzen immer häufiger benötigt. Denn Unternehmen benötigen Menschen, die nicht nur die Technik verstehen, sondern auch Empathie und die Nutzer:innenperspektiven mitbringen. Sie bringen Technik und Inklusion zusammen.

1. Accessibility Expert:in

Sie sind die Architekten und Architektinnen digitaler Barrierefreiheit. Accessibility-Experten und Expertinnen kennen die rechtlichen Vorgaben, prüfen Websites und Apps auf Barrierefreiheit und entwickeln Strategien zur Umsetzung der Standards. Sie sind damit vor allem zentrale Ansprechpersonen für die Unterstützung bei der Einhaltung gesetzlicher Vorgaben und bei der technischen Umsetzung und als interner Fürsprecher für das Thema Organisations-übergreifend.

2. Inclusive Design Expert:in

Inklusives Design bedeutet: Barrierefreiheit wird nicht nachträglich hinzugefügt, sondern von Anfang an schon im Designprozess mitgedacht. Diese Designer:innen entwickeln Benutzeroberflächen und Schnittstellen, die für alle funktionieren – ohne Kompromisse bei Ästhetik oder Usability. Ihr Ziel: universelles Design, das niemanden ausschließt in enger Zusammenarbeit mit den Frontend Entwicklern, Designern und Produkt Managern.

3. Accessibility Operations Manager:in

Eine tragende Rolle spielen auch Accessibility Operations Manager:innen, die Barrierefreiheitsprojekte organisatorisch begleiten und für den reibungslosen Ablauf sorgen. Von der Organisation von Usability-Tests mit Menschen mit Behinderungen bis zur Dokumentation der Ergebnisse und Umsetzung des Feedbacks – diese Manager:innen koordinieren barrierefreie Produktentwicklungsprozesse und fungieren als Schnittstelle zwischen Teams.

4. Inclusive Design Researcher:in

Inclusive Design Researcher:innen forschen an der Lebensrealität der Nutzer:innen. Durch Interviews, Beobachtungen und Tests mit Menschen mit Behinderungen generieren sie fundierte Erkenntnisse, wie digitale Produkte tatsächlich genutzt werden und liefern damit die Basis für bessere Produkte.

5. Professionelle Accessibility Tester:in

Und nicht zuletzt braucht es professionelle Accessibility Tester:innen: Diese Rolle übernehmen oft die Betroffenen selbst. Menschen mit Behinderungen testen digitale Angebote unter realen Bedingungen, evaluieren und geben Rückmeldungen, die keine Maschine liefern kann. Ihr Feedback ist Gold wert, weil es aus echter Erfahrung stammt und zeigt, was wirklich funktioniert und was nicht.

Was Unternehmen jetzt tun müssen

Der EAA ist kein Projekt, das einmalig umgesetzt werden kann, sondern eine langfristige Veränderung. Daher müssen Unternehmen beginnen, ihre Teams interdisziplinär aufzustellen, klare Zuständigkeiten für Accessibility und Inclusive Design zu definieren und langfristige Prozesse zu etablieren. Außerdem ist es essenziell, Barrierefreiheit von Anfang an in alle Projektphasen zu integrieren und nicht erst im finalen Testing. UX-Designer:innen, Entwickler:innen und Produktverantwortliche müssen eng zusammenarbeiten und regelmäßig Feedback aus der betroffenen Community einholen. Dazu bietet es sich an, Crowdtesting mit Menschen mit Behinderungen zu etablieren und externe Expertise hinzuzuziehen, um Know-how und Perspektiven zu ergänzen.

Karrierechance Accessibility: Was Bewerber und Bewerberinnen mitbringen sollten

Gleichzeitig eröffnen sich für Bewerberinnen und Bewerber neue Wege. Wer sich für digitale Barrierefreiheit interessiert, kann jetzt einsteigen oder sich weiterbilden. Denn Berufsbilder rund um Barrierefreiheit sind keine Nischen mehr, sondern werden zunehmend gesucht. Wer sich in diesem Feld positionieren möchte, sollte beispielsweise Kenntnisse in UX-Design oder Webstandards mitbringen. Kenntnisse in HTML, ARIA-Standards oder assistiven Technologien sind hilfreich, aber nicht allein ausschlaggebend. Gefragt ist vor allem die Fähigkeit, sich in andere Perspektiven hineinzuversetzen und unterschiedliche Nutzerbedürfnisse zu verstehen. Idealerweise bestehen bereits Erfahrungen mit Barrierefreiheit, aber auch mit Kommunikationsfähigkeit, Sensibilität und Begeisterung für interdisziplinäre Zusammenarbeit. Viele Wege können in diese Berufsfelder führen: zum Beispiel über UX, über Frontend-Entwicklung, über soziale Arbeit oder inklusive Forschung. In jedem Fall ist es ein Berufsfeld, das gesellschaftliche Wirkung entfaltet und die digitale Welt für alle zugänglich macht.

Eine neue Selbstverständlichkeit

Barrierefreiheit ist der Weg zu besseren Produkten und einer gerechteren digitalen Gesellschaft. Während einige Teams möglicherweise Bedenken hinsichtlich zusätzlicher Arbeitsbelastung oder Kosten haben, ist Barrierefreiheit leicht zu erreichen und steht im Einklang mit bestehenden Prioritäten – nämlich umfassender Qualität. Sie verlangt strukturelle Veränderungen, neue Rollen und eine Haltung, die Vielfalt nicht nur akzeptiert, sondern aktiv gestaltet. Die neuen Jobprofile verbinden technische Expertise mit einer empathischen Haltung gegenüber unterschiedlichen Nutzeranforderungen und erzielen dadurch echten Impact. Unternehmen, die ihre Prozesse aktiv anpassen, können mithelfen, die digitale Welt für alle zugänglich zu machen.

Alexander Waldmann
Foto: ©Applause

Alexander Waldmann ist Vice President bei Applause. Er ist dafür verantwortlich, den Erfolg von Testprojekten und Lösungsimplementierungen für Kunden in Europa sicherzustellen. Zudem ist er Experte in den Bereichen KI, Automatisierung, digitale Zahlungsabwicklung sowie Sicherheit. Vor seiner Zeit bei Applause war Alex Gründer & CEO von netcorps, einer Full-Service-Beratung für IT, Usability, Softwareentwicklung und Sicherheitstests.

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