Das Schweige-Experiment : Wie Schweigen Teamdynamiken sichtbar macht
In Zeiten, in denen viele Organisationen an Kommunikationsüberlastung leiden – zu viele Mails, zu viele Meetings, zu viele Kanäle – kann der mutige Schritt darin bestehen, nicht noch ein weiteres „Kommunikationsformat“ oben draufzusetzen, sondern Formate zu nutzen, die Kommunikation neu denken. Ein Ansatz: Schweigen.

„Wir brauchen mehr Kommunikation im Unternehmen.“ Kaum eine HR-Strategie, kaum ein Change-Projekt, in dem dieser Satz nicht fällt. Gemeint ist fast immer: mehr Gespräche, mehr Feedback, mehr Transparenz. In der Praxis führt das häufig zu noch einem Meeting, noch einem Workshop, noch einem Austauschformat. Was dabei fast nie vorkommt, ist ein bewusst eingesetztes Element, das im organisationalen Alltag regelrecht verdächtig wirkt: Schweigen.
Schweigen gilt in Unternehmen schnell als Leerstelle. Wer nichts sagt, gilt als passiv, unbeteiligt, schwierig. In Workshops versuchen Moderator:innen, entstehende Stille möglichst rasch zu „überbrücken“, damit „wieder Leben reinkommt“. Dabei liegt gerade in dieser Stille eine ungenutzte Ressource: die produktive Kraft des Schweigens. Richtig gerahmt und professionell begleitet, kann Schweigen in Teamworkshops Dynamiken sichtbar machen, kreative Prozesse anstoßen und Verantwortung stärken – und damit genau jene Themen adressieren, mit denen sich HR seit Jahren beschäftigt.
Dass Schweigen so schwer auszuhalten ist, hat viel mit der Kultur moderner Organisationen zu tun. Leistung wird oft über Sichtbarkeit und Sprechanteil definiert: Wer argumentiert, präsentiert, diskutiert, gilt als engagiert. Stille irritiert, weil sie Deutungsspielräume öffnet. Ist die Person dagegen? Überfordert? Gelangweilt? Enttäuscht? Hinzu kommt die soziale Norm, Gesprächslücken zu füllen – wir sind es gewohnt, Unbehagen mit Worten zu überdecken. Es fällt schwer, Stille im Raum oder im Gespräch auszuhalten. Und schließlich spielt Macht eine Rolle: Wer spricht, setzt Themen; wer schweigt, entzieht sich scheinbar der Steuerung. All das macht Schweigen auf den ersten Blick unkomfortabel, auf den zweiten aber hochinteressant als Instrument in der Teamentwicklung.
Mute & Move
In einem Pilot-Workshop „Mute & Move“ zu diesem Thema wurde genau damit gearbeitet: mit klar definierten Schweigephasen als Herzstück des Formats. Die Gruppe erhielt eine sinnvolle, anspruchsvolle Aufgabe. Das Thema war relevant, der Kontext eindeutig. Und doch galt für einen festgelegten Zeitraum: keine verbale Kommunikation. Kein Flüstern, kein kurzer Kommentar, keine erklärende Intervention. Die Teilnehmenden sollten weiterarbeiten, aber ohne zu reden. Was sich zunächst wie eine künstliche Einschränkung anhört, erwies sich als erstaunlich reichhaltiger Beobachtungsraum.
Schon nach kurzer Zeit traten sehr unterschiedliche Reaktionen zutage. Einige Teilnehmende rutschten sichtbar in den Widerstand. Die Körperhaltung schloss sich, Arme wurden verschränkt, der Blick wanderte Richtung Tür oder Handy. Genervtheit machte sich breit. Der Eindruck: „Das ist doch albern, ich mache hier nicht mehr mit.“ Schweigen wurde als Kontrollverlust erlebt, als Zumutung, als etwas, das man innerlich quittiert. Gleichzeitig blieben diese Personen im Raum. Trotz sichtbar sinkender Motivation gab es ein unterschwelliges Commitment, Teil des Geschehens zu bleiben – ein ambivalenter, aber spannender Zustand.
Funktionales Umschiffen
Andere versuchten, das Schweigen „funktional“ zu umschiffen. Sie legten ihre gesamte Energie in die Bearbeitung der Aufgabe, arbeiteten mit Stift, Zetteln und Gesten, als müssten sie das Verbot zu sprechen durch gesteigerte Aktivität kompensieren. Das sah eine Zeitlang erstaunlich produktiv aus, stieß jedoch auf Grenzen: Ohne kurze Abstimmungen, Nachfragen oder Korrekturen konnte viel Energie in Details versickern. Es wurde spürbar, wie sehr sich Teams im Alltag auf Sprache als Steuerungsinstrument verlassen – und wie verletzlich Prozesse sind, wenn diese Ressource wegfällt.
Eine dritte Gruppe reagierte anders: Sie nutzte die Stille als Freiraum für Spiel und Kreativität. Einzelne begannen zu zeichnen, zu skizzieren, kleine Symbole zu entwickeln. Manchmal wirkte das zunächst wie ein Ausweichen aus der Aufgabe, bei genauerem Hinsehen zeigte sich jedoch, dass diese spielerischen Aktivitäten eng mit den Workshopinhalten verwoben waren. Da wurden z. B. abstrakte Themen in Bilder übersetzt, komplexe Konstellationen in kleine Szenen. Formen, die im klassischen, stark moderierten Workshop kaum auftauchen, weil sie als „abschweifend“ gelten, entfalteten in der Stille eine erstaunliche Klarheit.
Mikro-Gruppenbildung ohne Worte
Noch interessanter als das Verhalten Einzelner war jedoch das, was zwischen den Menschen passierte. Ganz ohne Worte bildeten sich Mikro-Gruppen: die Frustrierten, die Fokussierten, die Spielerischen. Man konnte sehen, wie Blicke gesucht wurden, wie sich kleine „Allianzen“ bildeten, wer wen im Raum scannte, wer Anschluss suchte und wer sich bewusst entkoppelte. Diese Gruppen blieben jedoch nicht stabil. Teilnehmende wechselten quasi die „Seite“, ließen sich anstecken, zogen sich zurück, kamen wieder dazu. Die Unruhe wanderte durch den Raum, und mit ihr die Energie. Schweigen machte sichtbar, wer Orientierung gibt, auch ohne formale Führungsrolle, wer Brücken schlägt zwischen Stimmungen, wer durch sein Verhalten Spannungen eher verstärkt oder entschärft.
Von außen betrachtet war dieser Prozess hoch lebendig – und das ohne ein einziges gesprochenes Wort. Genau darin liegt der Wert für HR und Organisationsentwicklung: Die Schweigephase wirkt wie ein Kontrastmittel, das Teamkultur, Rollenverständnisse und emotionale Muster deutlicher konturiert. Man sieht, wie das Team mit Frustration umgeht, wie es auf Begrenzung reagiert, wie stabil oder brüchig Zugehörigkeit ist. Und man erkennt zugleich, dass Gruppendynamik nicht von eloquenten Redebeiträgen abhängt, sondern von Haltungen, Erwartungen und unausgesprochenen Vereinbarungen.
Stilles Gefühl von Verpflichtung bildet sich
Besonders eindrucksvoll war im Pilotworkshop die Rückkehr in den „normalen“ Arbeitsmodus. Es brauchte keinen großen Neustart, keine motivierende Rede, kein „Jetzt fangen wir nochmal von vorne an“. Nach der Schweigephase, in der durchaus Widerstand, Langeweile, Kreativität und leiser Trotz zu sehen waren, fanden alle wieder in die Bearbeitung der eigentlichen Aufgabe. Nicht, weil jemand dazu aufgefordert hätte, sondern weil ein stilles Gefühl von Verpflichtung im Raum stand: Wir haben gemeinsam begonnen, wir bringen das gemeinsam zu Ende. Die Schweigephase hatte das Verantwortungsgefühl nicht unterminiert – sie hatte es eher freigelegt.
Für HR-Manager, die Teams durch Veränderungen begleiten, ist diese Art von Workshop kein esoterisches Randphänomen, sondern ein ernstzunehmendes Entwicklungsinstrument. Schweigen wird hier nicht als spirituelle Übung verstanden, sondern als bewusst eingesetztes Gestaltungselement. Es konfrontiert Teams mit der Frage: Was passiert, wenn unsere üblichen Routinen – reden, moderieren, kommentieren – nicht zur Verfügung stehen? Wo stehen wir dann als Gruppe? Wie gut können wir Ambivalenz, Unsicherheit und unterschiedliche Tempi aushalten? Und wer übernimmt Verantwortung, wenn klassische Führungswerkzeuge kurzzeitig ausgesetzt werden?
Für diese Teams ist das Format geeignet
Ein Format wie „Mute & Move“ ist besonders geeignet für Teams, die in Veränderungsprozessen stecken, unter hoher Kommunikationsdichte leiden oder in Meetings viel sprechen, aber wenig entscheiden. Es adressiert Führungsteams, die ihre Rolle im Zusammenspiel neu definieren wollen, genauso wie operative Projektteams, die in festgefahrenen Mustern arbeiten. Entscheidend ist, dass die Schweigephasen professionell gerahmt und reflektiert werden. Die eigentliche Wirkung entsteht nicht nur in der Stille selbst, sondern in der gemeinsamen Auswertung danach: Wie habe ich mich gefühlt? Was hat mich bei anderen irritiert oder beeindruckt? Welche Parallelen sehe ich zu unserem Arbeitsalltag? Was möchte ich konkret verändern?
Formate nutzen, die Kommunikation neu denken
Aus HR-Sicht bietet die produktive Nutzung von Schweigen damit mehrere Hebel zugleich: Sie schafft einen ungewohnten, aber sicheren Raum, in dem Teamdynamiken sichtbar werden. Sie entlastet das System von der Vorstellung, alles ließe sich über „mehr Kommunikation“ lösen. Und sie verschiebt Verantwortung ein Stück weit weg von der Moderation hin zu den Teilnehmenden selbst. Schweigen wird so zu einem Führungsinstrument, das nicht von oben verordnet, sondern als gemeinsame Erfahrung gestaltet wird.
In Zeiten, in denen viele Organisationen an Kommunikationsüberlastung leiden – zu viele Mails, zu viele Meetings, zu viele Kanäle – kann der mutige Schritt darin bestehen, nicht noch ein weiteres „Kommunikationsformat“ oben draufzusetzen, sondern Formate zu nutzen, die Kommunikation neu denken. Schweigen ist dabei kein Rückzug, sondern ein Perspektivwechsel: weniger Lärm, mehr Wahrnehmung, mehr Verantwortung.
Eva Lersch, Methodikerin, dialoge.digital

Michael Krieger, Kommunikationsstratege, dialoge.digital




