Die Arbeitswelt 2026 – Ein Blick nach vorn : Ein Gastbeitrag von Thorsten Rusch, Senior Director Solution Consulting bei Cornerstone
Führungskräfte müssen neu definieren, was Führung in einer Human+AI-Umgebung bedeutet. Sie müssen zunächst ein realistisches Verständnis dafür gewinnen, welche Skills in ihrer Organisation tatsächlich vorhanden sind und wie schnell diese sich verändern.

Die Arbeitswelt befindet sich an einem Wendepunkt. Jahrzehntelang folgten technologische Veränderungen einem berechenbaren Muster: Neue Tools wurden eingeführt, Prozesse digitalisiert, Unternehmen passten sich an – oft langsam, aber stetig. Doch 2026 markiert eine neue Phase. Die Geschwindigkeit, mit der Skills veralten, Märkte sich verändern und künstliche Intelligenz in alltägliche Arbeitsprozesse Einzug erhält, nimmt immer weiter zu. Die Zusammenarbeit zwischen Mensch und KI wird mehr und mehr zu einer Selbstverständlichkeit.
Die große Herausforderung für Unternehmen und Mitarbeitende gleichermaßen besteht darin, diese Realität zu verstehen und sinnvoll zu gestalten, denn der Übergang in dieses neue Zeitalter ist nicht länger optional. Für Unternehmen bedeutet das: Es reicht nicht mehr, neue Technologien einzuführen oder bestehende Prozesse zu optimieren. 2026 entscheidet sich, ob Organisationen ihre Arbeitslogik grundlegend anpassen oder ob KI lediglich bestehende Ineffizienzen beschleunigt.
Warum KI noch nicht liefert, was viele erwarten
Die Entwicklung der letzten Jahre hat gezeigt, dass KI zwar überall präsent scheint, ihre tatsächliche Wirkung in Unternehmen aber oft hinter den Erwartungen zurückbleibt. Der Grund liegt nicht in fehlender Rechenleistung oder mangelnder Innovationskraft, sondern in einem grundlegenden Missverständnis. Dieses Missverständnis ist vor allem organisatorisch: KI wird eingeführt, ohne Arbeit, Rollen und Verantwortlichkeiten zuvor sauber zu definieren. Dadurch bleibt ihr Einsatz isoliert und ihr Potenzial ungenutzt. KI ist kein Werkzeug, das man einfach einführt und das dann „funktioniert“.
Sie ist ein System, das den Kontext verstehen muss, in dem sie agiert. Genau dieses Bewusstsein fehlt vielen Unternehmen. Sie setzen Systeme ein, die isoliert agieren, ohne die Arbeit wirklich zu erleichtern oder effektiver zu machen. Die KI, die eigentlich unterstützen soll, bleibt dadurch oberflächlich, unzuverlässig oder ineffizient. Erst wenn sie versteht, wie Menschen tatsächlich arbeiten, welche Aufgaben sie übernehmen und wie diese Aufgaben miteinander zusammenhängen, kann die Technologie ihren versprochenen Nutzen entfalten.
Organisationen müssen sich neu sortieren
An dieser Stelle beginnt der tiefgreifende Wandel in der Organisationsentwicklung. HR und IT – zwei Bereiche, die lange parallel statt gemeinsam agiert haben – stehen vor einer neuen Form der Zusammenarbeit. Die Gestaltung der Jobprofile wird nicht länger isoliert betrachtet. HR kennt die Fähigkeiten der Menschen, weiß, welche Skills fehlen, wie der Arbeitsmarkt sich entwickelt und welche Kompetenzen aufgebaut werden müssen. IT hingegen liefert nicht nur Systeme, sondern zunehmend digitale Skills in Form von KI-Agenten, Automatisierungen und Plattformen. Sobald diese beiden Bereiche zusammengeführt werden, entsteht ein vollständiges Bild darüber, wie die Arbeit der Zukunft aussehen kann.
In der Realität ist diese Integration jedoch anspruchsvoll. Sie erfordert klare Verantwortlichkeiten, gemeinsame Steuerungslogiken und die Bereitschaft, etablierte Zuständigkeiten infrage zu stellen. Ohne diese Klärung bleibt die Zusammenarbeit oberflächlich. Nicht als Gegenüberstellung von Mensch und Maschine, sondern als eng verzahntes System gemeinsamer Wertschöpfung. Dieses neue Verständnis führt zu einer anderen Form der Workforce-Planung. Damit wird diese zur Führungsaufgabe und nicht länger zu einer rein operativen HR-Disziplin. Statt Kapazitäten nur über Rollen oder Mitarbeitendenzahlen zu steuern, müssen Unternehmen verstehen, welche konkreten Skills für die Erreichung der Geschäftsziele notwendig sind. Dazu gehört eine kontinuierliche Analyse darüber, welche Aufgaben KI vollständig übernehmen kann, welche Tätigkeiten menschliches Urteilsvermögen benötigen und wo hybride Modelle sinnvoll sind.
Diese sogenannte „Continuous Workforce Planning“-Praxis basiert auf stabilen Datenstrukturen, die in vielen Organisationen heute noch fehlen. Eben diese Daten werden im kommenden Jahr eine entscheidende Rolle spielen. Unternehmen müssen sie als strategische Kennzahlen begreifen, die es gilt, entsprechend zu nutzen. Denn während Daten von Kundinnen und Kunden oder Finanzkennzahlen in den meisten Unternehmen präzise erfasst werden, ist das Wissen über die tatsächlichen Skills der Belegschaft oft bruchstückhaft.
KI-gestützte Belegschaften werden zur neuen Normalität
Parallel dazu entstehen neue Workforce-Modelle. Organisationen können es sich nicht mehr leisten, allein auf Vollzeitkräfte zu setzen. Die Geschwindigkeit des Marktes erfordert flexible Kapazitäten. Diese Vielfalt macht Unternehmen anpassungsfähig, fordert aber gleichzeitig eine klare Strukturierung. Wenn KI eigenständige Aufgaben erfüllt oder Entscheidungen trifft, müssen Grenzen definiert werden. Vielerorts entsteht dadurch ein kultureller Wandel, in dem Teams lernen müssen, als Erweiterung ihrer eigenen Möglichkeiten gemeinsam mit KI-Systemen zu arbeiten.
Besonders deutlich zeigt sich diese Transformation in den Anforderungen an Skills. Die alte Unterscheidung zwischen „technischen“ und „menschlichen“ Rollen verliert an Bedeutung. KI automatisiert Tätigkeiten, die früher als typisch technisch galten, wie Programmierung, Datenanalyse oder Recherche. Gleichzeitig steigt in diesen ehemals technisch geprägten Bereichen der Bedarf an menschlichen Kompetenzen. Es ist die Pflicht der Menschen, Verantwortung zu übernehmen, Entscheidungen zu hinterfragen und ethische Abwägungen zu treffen. Die Rollen verändern sich, und mit ihnen die Erwartung an die Menschen, die sie ausfüllen. Gleichzeitig benötigen klassische „People-Rollen“ heute Skills, die früher vor allem im technischen Bereich verankert waren: analytisches Denken, KI-Kompetenz, der souveräne Umgang mit Daten. Diese Entwicklung verdeutlicht, wie sehr sich berufliche Identitäten wandeln und dass Lernen und Entwicklung sich diesem Wandel anpassen müssen.
Wenn Rollen sich wandeln
Das führt zu der Neuinterpretation dessen, was Lernen im Arbeitskontext bedeutet. Für viele Jahre galt es bereits als Fortschritt, Lerninhalte möglichst leicht zugänglich zu machen und in den Arbeitsfluss zu integrieren. Doch 2026 zeichnet sich eine Verschiebung ab. Lernen wird nicht länger als parallele Tätigkeit betrachtet, sondern als integraler Bestandteil der Arbeitsleistung selbst. KI-Agenten können sowohl Lerninhalte als auch Aufgaben analysieren und miteinander verknüpfen. Ein Kurs bleibt nicht länger isoliert, sondern führt direkt in eine passende Praxisaufgabe. Projektarbeit dient gleichzeitig als Messinstrument für den Lernfortschritt. Die Grenzen zwischen Lernen und Arbeiten verschwinden zugunsten eines Systems, das beides verbindet und dadurch sowohl Produktivität als auch Kompetenzaufbau fördert.
Warum 2026 ein entscheidendes Jahr wird
All diese Entwicklungen bedeuten für Führungskräfte, dass sie neu definieren müssen, was Führung in einer Human+AI-Umgebung bedeutet. Sie müssen zunächst ein realistisches Verständnis dafür gewinnen, welche Skills in ihrer Organisation tatsächlich vorhanden sind und wie schnell diese sich verändern. Sie müssen die eigene KI-Strategie eng mit der Workforce-Strategie verbinden, statt beide getrennt voneinander zu entwickeln. Und sie müssen bereit sein, Experimente zuzulassen. Es geht um kleine, gezielte Schritte, die zeigen, wie Mensch und KI real miteinander arbeiten können. Nur durch solche Experimente lässt sich herausfinden, wo die größten Potenziale liegen und wo Risiken minimiert werden müssen. Die Zukunft der Arbeit entsteht an der Schnittstelle zwischen Mensch und KI. 2026 ist das Jahr, in dem Führungskräfte zeigen müssen, ob sie bereit sind, Organisationen konsequent um Arbeit, Skills und Verantwortung herum neu zu denken.

Thorsten Rusch ist Senior Director Solution Consulting für DACH, Nord- und Osteuropa bei Cornerstone. Mit über 17 Jahren Erfahrung im HR-Tech-Bereich ist er ein Experte darin, Unternehmen dabei zu unterstützen, ihre Mitarbeiterentwicklung zu gestalten und Technologien wie KI richtig einzusetzen, um Arbeitsprozesse zu optimieren und gleichzeitig ein motivierendes und unterstützendes Arbeitsumfeld zu schaffen.
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