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Warum Recruiting von der Medienbranche lernen muss : Ein Paradigmenwechsel in der Personalgewinnung

Die Medienwissenschaft kennt die "Rule of Seven" seit den 1930er-Jahren: Marketingpionier Thomas Smith formulierte bereits 1885 erste Grundlagen, die Hollywood zur "Rule of Seven" weiterentwickelte. Menschen müssen eine Botschaft durchschnittlich sieben Mal wahrnehmen, bevor sie handlungsbereit sind. Moderne Werbekampagnen planen jeden Touchpoint strategisch. Im Recruiting wird diese Grundregel missachtet.

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Großer Banner, auf dem geschrieben steht "Your story starts here"
Foto: ©AdobeStock/DigitaArt.Creative

Der deutsche Arbeitsmarkt steht vor einer historischen Herausforderung: Zwei Millionen offene Stellen treffen auf ein schrumpfendes Erwerbspersonenpotenzial. Gleichzeitig berichten Unternehmen von dramatisch sinkenden Bewerberzahlen trotz steigender Recruiting-Ausgaben. Die Ursache liegt nicht nur im Fachkräftemangel, sondern vor allem in veralteten Methoden der Personalgewinnung. Es ist Zeit, dass Recruiting von der Medienbranche lernt.

Stellenanzeigen sind keine Produktbeschreibungen

Seit Jahrzehnten folgen Stellenanzeigen demselben Schema: Aufgabenbeschreibung, Anforderungsprofil, Benefits. Sie lesen sich wie technische Datenblätter – sachlich, vollständig, austauschbar. Während die Medienbranche längst verstanden hat, dass Aufmerksamkeit die härteste Währung des digitalen Zeitalters ist, behandelt das Recruiting seine wichtigste Kommunikationsaufgabe wie einen administrativen Akt.

Die erfolgreichsten Medienmarken investieren Millionen in die emotionale Ansprache ihrer Zielgruppen. Sie erzählen Geschichten, schaffen Identifikation, bauen Beziehungen auf. Im Recruiting dominiert die „Post-and-Pray“-Mentalität – die Illusion, eine gut formulierte Stellenanzeige auf dem richtigen Portal würde ausreichen.

Die 7-Kontakt-Regel

Die Medienwissenschaft kennt die „Rule of Seven“ seit den 1930er-Jahren: Marketingpionier Thomas Smith formulierte bereits 1885 erste Grundlagen, die Hollywood zur „Rule of Seven“ weiterentwickelte. Menschen müssen eine Botschaft durchschnittlich sieben Mal wahrnehmen, bevor sie handlungsbereit sind. Moderne Werbekampagnen planen jeden Touchpoint strategisch.

Im Recruiting wird diese Grundregel missachtet. Eine Stellenanzeige wird einmal geschaltet, dann wird gewartet. Doch 70 Prozent der wechselwilligen Fachkräfte suchen gar nicht aktiv. Diese passive Mehrheit erreicht man nur durch kontinuierliche Präsenz.

Ein Beispiel: Der potenzielle IT-Spezialist liest morgens Tech-News, sieht mittags Arbeitgeber-Content auf LinkedIn, begegnet abends einer Kampagne auf dem Heimweg. Recruiting muss solche Customer Journeys entwickeln: vom unbewussten Erstkontakt über wachsendes Interesse bis zur Bewerbung.

Zielgruppenanalyse statt Gießkanne

Netflix kennt unsere Sehgewohnheiten, Spotify unsere Musikvorlieben. Diese Plattformen investieren Milliarden in Verhaltensanalyse, um zur richtigen Zeit die richtige Botschaft zu platzieren.

Im Recruiting dominiert das Gießkannenprinzip. Dabei ist es technisch möglich, potenzielle Kandidaten gezielt in empfänglichen Momenten anzusprechen. Die Medienbranche erkennt aus Datenpunkten Verhaltensmuster: Wann steigt die Wechselbereitschaft? Diese Erkenntnisse ermöglichen kontextbezogene Platzierung – als relevante Information, nicht als störende Werbung.

Ingenieurs-Stellen bei Technologie-Nachrichten, Pflegepersonal-Kampagnen im Gesundheitsumfeld – die Botschaft wird als passende Ergänzung wahrgenommen, nicht als Unterbrechung.

Die Macht des richtigen Kontexts

Der Kontext bestimmt die Wahrnehmung. Eine Botschaft im redaktionellen Umfeld eines Qualitätsmediums wirkt anders als im Social-Media-Feed. Entscheidend ist die Glaubwürdigkeit des Umfelds passend zur Zielgruppe. Ein Handwerker vertraut anderen Quellen als ein Akademiker, Gen-Z anderen als Senior Professionals.

Stellenanzeigen auf Jobportalen haben diesen Vorteil verloren. Sie konkurrieren mit Hunderten ähnlicher Anzeigen. Hier findet nur mechanischer Faktencheck statt: Standort, Gehalt, Benefits. Die Arbeitgebermarke? Nur bei Konzernen relevant. Der innovative Mittelständler, das Start-up? Sie gehen unter. Die Chance auf emotionale Berührung tendiert gegen null.

Erfolgreiche Medienmarken nutzen den „Halo-Effekt“: Ein Stellenangebot für Pflegekräfte im Kontext eines Gesundheitsartikels wirkt informativ. Eine Position für Nachhaltigkeitsmanager neben Klimainnovationen weckt Interesse. Ein IT-Job bei KI-News inspiriert. Die Botschaft profitiert vom redaktionellen Kontext und wird als natürliche Information wahrgenommen.

Vom Einzelposting zum Ökosystem

Erfolgreiche Medienunternehmen denken in Ökosystemen. Sie schaffen ein Geflecht aus Touchpoints – online und offline, bewusst und unbewusst.

Für Recruiting bedeutet das: weg von der isolierten Stellenanzeige, hin zur orchestrierten Arbeitgeberpräsenz. Das beginnt mit authentischen Einblicken in die Unternehmenskultur und mündet in einem nahtlosen Bewerbungsprozess.

Geschichten statt Fakten

Apple verkauft Kreativität, Nike Selbstüberwindung. Im Recruiting dominieren Feature-Listen: „30 Tage Urlaub, Obstkorb.“ Diese Benefits sind austauschbar und emotional bedeutungslos.

Menschen erinnern sich an Geschichten, nicht an Fakten. Sie identifizieren sich mit Charakteren, nicht mit Anforderungsprofilen. Erfolgreiches Recruiting muss erzählen: Wer sind die Menschen hinter den Positionen? Welche Herausforderungen werden gemeistert? Authentische Mitarbeitergeschichten schlagen jede Hochglanzbroschüre.

Messen und optimieren

Die Medienbranche lebt von Metriken. Jeder Klick wird gemessen, A/B-Tests sind Standard. Im Recruiting herrscht Bauchgefühl. Welche Kanäle funktionieren? Ohne valide Daten bleiben das Vermutungen. Moderne Medien optimieren in Echtzeit. Diese Agilität fehlt im Recruiting – eine Stellenanzeige wird geschaltet und dann gehofft.

Recruiting als Medienkompetenz

Die Grenzen zwischen Medien und Recruiting verschwimmen. Erfolgreiche Unternehmen begreifen Recruiting als mediale Herausforderung:

  • Kontinuität statt Einmaligkeit: Konstante Arbeitgeberpräsenz aufbauen
  • Personalisierung statt Standardisierung: Spezifische Ansprache pro Zielgruppe
  • Emotion statt Information: Karriereentscheidungen fallen emotional
  • Integration statt Isolation: Recruiting als Teil der Unternehmenskommunikation

Fazit

Die Medienbranche durchlief in 20 Jahren eine radikale Transformation: vom Sender zum Dialog, von Masse zu Personalisierung. Diese Evolution steht dem Recruiting bevor.

Wer weiterhin auf traditionelle Methoden setzt, verliert im Talentewettbewerb. Die Gewinner verstehen Recruiting als professionelle Kommunikation mit einer anspruchsvollen Zielgruppe. Die Werkzeuge existieren. Der Paradigmenwechsel vom Jobposting zum Jobvertising ist keine Option – er ist Notwendigkeit. Wer heute nicht umdenkt, findet morgen keine Talente mehr.

Mark Lucht
Foto: ©Ströer Content Group Sales GmbH

Mark Lucht ist Geschäftsführer der Ströer Content Group Sales GmbH und verantwortlich für t-online.jobs. Mit über 20 Jahren Erfahrung in Marketing und digitaler Vermarktung zählt er zu den Vordenkern moderner Personalgewinnung. Seine Expertise liegt in der Übertragung bewährter Medienprinzipien auf Recruiting-Herausforderungen. Er verbindet datengetriebene Analysen mit der Reichweite digitaler Medienplattformen und entwickelt crossmediale Recruiting-Kampagnen.

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