Urlaubsanspruch: Verjährung und Verfall
Nach Art. 7 der Richtlinie 2003/88 und Art. 31 Abs. 2 GRCh könne ein erworbener Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nach Ablauf des Bezugszeitraums und/oder eines im nationalen Recht festgelegten Übertragungszeitraums nicht erlöschen, wenn der Arbeitnehmer nicht in die Lage versetzt wurde, seinen Urlaub zu nehmen.
In drei Fällen hat der Europäische Gerichtshof entschieden, dass in bestimmten Fällen der Urlaubsanspruch doch nicht verjährt bzw verfällt. Diese drei Fälle stammen aus Deutschland. Dabei ist ausschlaggebend, ob der Arbeitgeber seinen Teil dazu beigetragen bzw darauf hingewiesen hat, dass der Urlaub bald verfällt. Für eine Verjährung müsse er den Arbeitnehmer zuvor durch entsprechende Aufforderung tatsächlich in die Lage versetzt haben, seinen Urlaubsanspruch auszuüben.
Zwei der Fälle drehten sich um den Urlaubsanspruch bei Krankheit. Die Kläger machten geltend, dass sie einen Anspruch auf bezahlten Urlaub für das Jahr haben, in dem sie aus gesundheitlichen Gründen erwerbsgemindert beziehungsweise arbeitsunfähig waren. Bei Krankheit verfällt der Urlaubsanspruch nach deutschem Recht normalerweise nach 15 Monaten. Das BAG wollte vom EuGH wissen, ob der Urlaubsanspruch auch dann nach 15 Monaten verfallen darf, wenn der Arbeitgeber seine Pflichten nicht erfüllt hat, also beispielsweise keine Frist gesetzt hat, in welcher der Urlaub genommen werden soll.
Dem erteilte der EuGH eine klare Absage: Der Urlaubsanspruch verfalle nur dann, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer rechtzeitig in die Lage versetzt hat, seinen Urlaub zu nehmen. Von der Regel, dass Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub nicht erlöschen, könne zwar unter „besonderen Umständen“ eine Ausnahme gemacht werden, um die negativen Folgen einer unbegrenzten Ansammlung von Urlaubsansprüchen nach Abwesenheit wegen Langzeiterkrankung zu vermeiden. Eine solche Ausnahme beruhe auf dem eigentlichen Zweck des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub sowie auf der Notwendigkeit, den Arbeitgeber vor der Gefahr der Ansammlung von zu langen Abwesenheitszeiträumen des Arbeitnehmers und den Schwierigkeiten zu schützen, die sich daraus für die Arbeitsorganisation ergeben können.
Allerdings würden mit dem automatischen Verlust des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub die Grenzen verkannt, die von den Mitgliedstaaten zwingend einzuhalten sind, wenn sie die Modalitäten für die Ausübung dieses Anspruchs im Einzelnen festlegen. Nach Art. 7 der Richtlinie 2003/88 und Art. 31 Abs. 2 GRCh könne ein erworbener Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nach Ablauf des Bezugszeitraums und/oder eines im nationalen Recht festgelegten Übertragungszeitraums nicht erlöschen, wenn der Arbeitnehmer nicht in die Lage versetzt wurde, seinen Urlaub zu nehmen. Hiervon könnten die Mitgliedstaaten nicht abweichen. Es obliege dementsprechend dem Arbeitgeber, den Arbeitnehmer in die Lage zu versetzen, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub auszuüben. In den beiden zu entscheidenden Fällen bestehe zudem nicht die Gefahr der negativen Folgen einer unbeschränkten Ansammlung von Ansprüchen auf bezahlten Jahresurlaub. Daher erscheine ein Schutz der Interessen des Arbeitgebers nicht unbedingt erforderlich.
Im dritten Fall konnte die Klägerin ihren Urlaub nach eigener Aussage wegen des hohen Arbeitsaufwands nicht nehmen und forderte eine Abgeltung der Urlaubstage. Ihr Arbeitgeber argumentierte, dass die Urlaubsansprüche nach der im Zivilrecht üblichen Frist von drei Jahren verjährt seien. Auch hier führte der EuGH aus, dass eine Abgeltung der Urlaubstage wegen Verjährung nur dann ausscheidet, wenn der Arbeitgeber dafür gesorgt hat, dass der Arbeitnehmer seinen Urlaubsanspruch tatsächlich wahrnehmen konnte. Da der Arbeitnehmer die schwächere Partei des Arbeitsvertrags sei, sollte die Aufgabe, für die tatsächliche Wahrnehmung des Anspruchs zu sorgen, nicht vollständig auf diesen verlagert werden. Andernfalls könne sich der Arbeitgeber seiner eigenen Pflichten unter Berufung auf einen fehlenden Antrag des Arbeitnehmers auf bezahlten Urlaub entziehen.
Die mit der Verjährung bezweckte Gewährleistung der Rechtssicherheit dürfe dem Arbeitgeber zudem nicht als Vorwand dienen, unter Berufung auf sein eigenes Versäumnis im Rahmen der Klage des Arbeitnehmers einen Vorteil zu ziehen, indem er die Einrede der Verjährung erhebt. Ließe man zu, dass sich der Arbeitgeber auf die Verjährung der Ansprüche des Arbeitnehmers berufen kann, ohne ihn tatsächlich in die Lage versetzt zu haben, diese Ansprüche wahrzunehmen, würde man im Ergebnis ein Verhalten billigen, dass zu einer unrechtmäßigen Bereicherung des Arbeitgebers führt und dem eigentlichen von Art. 31 Abs. 2 GRChverfolgten Zweck, die Gesundheit des Arbeitnehmers zu schützen, zuwiderläuft. Schließlich habe der Arbeitgeber zwar ein berechtigtes Interesse daran, nicht mit Urlaubsanträgen konfrontiert zu werden, die auf mehr als drei Jahre vor Antragstellung erworbene Ansprüche gestützt werden, sei aber nicht schutzwürdig, wenn er diese Situation selbst verursacht hat, indem er den Arbeitnehmer nicht in die Lage versetzt hat, den Anspruch tatsächlich wahrzunehmen.
Quelle: EuGH-Urteile vom 22.09.2022 – C-120/21