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Zeiterfassung ist doch letztes Jahrhundert, oder?

Wie bei jedem System bzw. bei jeder Maschine ist es abhängig von der Nutzung, ob es/sie nützlich oder schädlich ist. Man kann Wirkstoffe als Medizin oder als Gift einsetzen. Und genauso ist es mit der Zeiterfassung bzw. Zeitwirtschaftssystemen.

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Foto: ©AdobeStock/Angelov

In Zeiten von New Work hat Zeiterfassung zunehmend einen schlechten Ruf. Aussagen wie „Stempeluhr ist doch letztes Jahrhundert“ oder „Man muss die Leistung am Ergebnis messen und nicht nach Zeitverbrauch“ sind sehr populär. Allerdings hängt es extrem von der Tätigkeit und der Organisation ab, ob eine Zeiterfassung sinnvoll oder kontraproduktiv ist. Gleiches gilt übrigens für Vertrauensarbeitszeitsysteme, die allerdings nicht Thema dieses Artikels sind. Daher möchte ich in diesem Artikel ausführlich die Vor- und Nachteile, Chancen und Risiken von Zeiterfassung und deren Einsatzmöglichkeiten besprechen.

Zeiterfassung im Wandel der Zeit

Der Grund für den schlechten Ruf der Zeiterfassung liegt darin, dass diese oft mit den gläsernen Mitarbeitenden und der damit einhergehenden Kontrolle gleichgesetzt wird. Und tatsächlich führte 1798 der bayerische Kriegsminister Rumford erstmals eine Kontrolluhr zur Überwachung der Kanzleistunden der Beamten ein, die nach seiner Einschätzung lieber in Wirtshäusern saßen. Inhaltlich tut es zwar nichts zur Sache, aber die wenigsten wissen, dass 1924 die International Business Machines Corporation (kurz IBM) aus einem Zusammenschluss von einigen Zeiterfassungsunternehmen entstanden ist und damit die moderne EDV durch die Zeiterfassung mitbegründet wurde Daraus könnte man jetzt ableiten, dass Zeiterfassung tatsächlich letztes Jahrhundert ist. Allerdings würde man dann ignorieren, welchen Wandel die Zeiterfassung in den letzten 20 Jahren durchlaufen hat. Tatsächlich hat bis in die 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts aus Unternehmenssicht der Kontrollgedanke dominiert. Man wollte Kernzeitverletzungen oder unentschuldigtes Fehlen erkennen bzw. Mitarbeitende identifizieren, die zu wenig Arbeitszeit erbringen. Dementsprechend unpopulär war Zeiterfassung bei den Mitarbeitervertretungen.

In den 2000ern hat sich das Bild dann aber gewandelt. Zeiterfassung wurde mehr als Administrationserleichterung in Form von automatischer Zeitkontenführung und Zuschlagsermittlung gesehen, weniger als Kontrollinstrument. Und in den 2010ern ging der Trend noch mehr in die Richtung, dass eine gute Zeitwirtschaft als Basis für flexible Arbeitszeitmodelle angesehen wird. Parallel hat die Verbreitung von Vertrauensarbeitszeitsystemen stark zugenommen.

Leider wurden diese nicht selten entgegen der eigentlichen Intention eher als Mehrarbeitsauszahlungsvermeidungssysteme umgesetzt, weshalb es mittlerweile zunehmend von den Mitarbeitervertretungen den Wunsch nach (Wieder-)-Einführung einer Zeiterfassung gibt. Das Thema ist also vielschichtig und muss daher differenziert betrachtet werden. Im ersten Schritt möchte ich erläutern, welche Vorteile bzw. Chancen eine Zeiterfassung bietet.

Vorteile und Chance der Zeiterfassung

Transparenz über eine wesentliche Vertragsgrundlage

Die meisten Arbeitsverträge und Tarifsysteme basieren auf dem Prinzip, dass Arbeitnehmende dem Unternehmen ein Zeitkontingent zur Verfügung stellen und dafür im Gegenzug entlohnt werden. Nun kann man der Meinung sein, dass Ergebnisse im Hinblick auf Entlohnung wichtiger sind, als die dafür benötigte Zeit. Aber genau hier fängt bei vielen der Denkfehler an. Bei bestimmten Tätigkeiten wie z.B. Vertrieb oder kreativen Aufgaben ist dies sehr sinnvoll. Aber selbst hier müssen die Ziele bzw. gewünschten Ergebnisse so definiert werden, dass sie realistischerweise mit einem Einsatz in einem vereinbarten Zeitkorridor erreichbar sind. Zählt nur noch das Ergebnis, bewegt man sich eher wieder Richtung Leistungs- oder Akkordlohn, in dem z.B. nur die Anzahl produzierter Stück bezahlt wird, unabhängig vom Zeiteinsatz. Es gab und gibt allerdings gute Gründe, warum man davon abgekommen ist.

Abgesehen davon geht es bei vielen Tätigkeiten nach wie vor schwerpunktmäßig um die eingesetzte Zeit. Ein(e) PförtnerIn wird im Wesentlichen dafür bezahlt, dass die Pforte in einem definierten Zeitraum besetzt ist. In der Produktion müssen Maschinen 24/7 betrieben werden und die Mitarbeitenden werden dafür bezahlt, dass sie das in einer bestimmten Zeit tun. Und auch bei Pflegeleistungen geht es weniger darum, irgendein Ergebnis zu produzieren, sondern dass eine Stundenkapazität zu bestimmten Zeiten zur Verfügung steht, in der definierte Tätigkeiten durchgeführt werden.

Egal wie man es also sieht, Zeit ist und bleibt ein wesentlicher Bestandteil bei der Gestaltung von Arbeitsverträgen und die Zeiterfassung liefert gleichermaßen objektive Transparenz für Arbeitgebende und Arbeitnehmende, inwieweit diese vertraglich vereinbarten Zeiten eingehalten werden. Darüber hinaus ist es aber in jedem Fall sinnvoll, Mechanismen zu etablieren, um abschätzen zu können, ob aus der Anwesenheitszeit auch tatsächlich Arbeitszeit wird.

Voraussetzung für einige Teilzeitmodelle

Teilzeit definiert sich dadurch, dass weniger Arbeitsstunden vereinbart werden als bei Vollzeitkräften, also auch hier spielt Zeit eine zentrale Rolle. Solange Teilzeit als Kapazität in Stunden definiert wird, wird man immer in irgendeiner Form nachhalten müssen, dass die Teilzeitbeschäftigten auch tatsächlich weniger arbeiten als die Vollzeitkräfte. Bei Teilzeitverträgen auf Tagesbasis (z.B. 4-Tage-Woche) kann man dies auch auf Vertrauensarbeitszeitbasis machen, aber je flexibler Teilzeit vereinbart ist, z.B. 25 Stunden, die frei auf diverse Arbeitstage verteilt werden können, desto weniger wird man um eine Zeiterfassung herumkommen.

Einhaltung von Gesetzen

Der eigentliche Grund für das EuGh-Urteil zur Zeiterfassung lag darin, dass es überprüfbar sein muss, ob Gesetze eingehalten werden und Mehrarbeit honoriert wird. Und ohne Erfassung bzw. Dokumentation der Zeit ist es nun einmal nicht überprüfbar, inwieweit maximale Arbeitszeit, Ruhepausen etc. eingehalten werden können. Allerdings muss es hierfür nicht zwingend eine Zeiterfassung sein, es reicht auch eine vertrauensbasierte Dokumentation der Arbeitszeit.

Fairness

Durch eine Arbeitszeiterfassung wird zumindest der Faktor Arbeitszeit vergleichbar. Bei Vertrauensarbeitszeitsystemen kann es vorkommen, dass subjektive Einschätzungen zu Unmut führen, wenn Mitarbeitende der Meinung waren, dass sie mehr arbeiten bzw. anwesend sind als andere. Ohne objektive Zeiterfassung kann man diesen subjektiven Eindrücken nur schwer begegnen. Dabei gilt auch hier, dass Anwesenheitszeit nicht der einzige Faktor für eine Bewertung sein sollte.

Effizienz der Administration

Wenn man Zeitkonten führt oder Zuschläge für Nacht- und Mehrarbeit bezahlt, kann man mit einer elektronischen Zeiterfassung viel Zeit und Aufwand sparen, indem dies alles automatisiert berechnet und an das Lohnsystem übergeben wird.

Datenbasis für die eingesetzte Arbeitszeit

Außerhalb von kreativen Berufen gibt es in der Regel eine Korrelation von eingesetzter Arbeitszeit zu erzieltem Ergebnis, allgemein auch als Produktivität bekannt. Für die Ermittlung und Planung von Kapazitäten ist diese Größe sehr wichtig und ohne die Messung der eingesetzten Zeit objektiv nicht möglich. Bei Kostenkalkulationen würde wohl kaum jemand auf die Idee kommen, die eingesetzten Betriebsmittel und Sachressourcen nicht zu erfassen. Warum sollte dies bei Arbeitszeit anders sein, zumal die Personalkosten in vielen Prozessen die teuersten Produktionsfaktoren sind?

Kommunikationsinstrument

Zeiterfassung in Verbindung mit gut definierten Arbeitszeitkonten, wie z.B. Ampelkonten, führen automatisch zu einem Austausch zwischen Führungskräften und Mitarbeitenden, wenn bestimmte Kontengrenzen erreicht werden. Bauen Beschäftigte z.B. permanent Zeiten auf, kann dies die Basis für ein Gespräch sein, inwieweit die Arbeitslast in Bezug auf die vereinbarte Arbeitszeit angemessen ist bzw. ob es Bedarf an Schulungen gibt, um die Mitarbeitenden zu unterstützen, eine angemessene Arbeitslast in der Regelarbeitszeit zu bewältigen. In Vertrauensarbeitszeitsystemen gibt es das Risiko, dass derartige Gespräche nicht geführt werden, wenn sie nicht explizit durch die Beschäftigten eingefordert werden.

Nachteile und Risiken der Zeiterfassung

Grundsätzlich gibt es also viele gute Gründe, Arbeitszeiten zu erfassen. Allerdings kann Zeiterfassung auch unerwünschte Nebeneffekte haben, zumindest wenn die Modelle und Prozesse dafür schlecht oder unzureichend entwickelt wurden.

Daher nun im Folgenden die Nachteile bzw. Risiken einer Zeiterfassung Kosten der Zeiterfassung: Das Erfassen von Zeiten kostet mehr Aufwand und Geld, als wenn man darauf verzichtet. Ob diese Kosten den erzielten Nutzen übersteigen, hängt davon ab, was alles durch die Zeiterfassung abgedeckt wird. Hat man eine automatische Zuschlagsbewertung samt Lohnschnittstelle und/oder elektronische Workflows für die Urlaubsgenehmigung, so werden sich die notwendigen Investitionen in der Regel in relativ kurzer Zeit amortisieren. Und je mehr Mitarbeitende verwaltet werden, umso schneller geht dies. Hat man nur wenige Mitarbeitende in Vertrauensarbeitszeit, wird sich die Anschaffung eines Systems eher nicht rechnen. Letztendlich kann man aber in jedem Fall eine Kosten-/Nutzenrechnung durchführen, in der aufgezeigt wird, ob die Einführung einer elektronischen Zeiterfassung inhaltlich und ökonomisch sinnvoll ist.

Kontrolle

Wie bei jedem System bzw. bei jeder Maschine ist es abhängig von der Nutzung, ob es/sie nützlich oder schädlich ist. Man kann Wirkstoffe als Medizin oder als Gift einsetzen. Und genauso ist es mit der Zeiterfassung bzw. Zeitwirtschaftssystemen. Werden sie als administratives Tool gesehen, die dabei helfen, unterschiedlichste flexible Arbeitszeitmodelle zu administrieren, Zuschläge zu bewerten und Arbeitszeitgesetze einzuhalten, ist das anders zu bewerten, als wenn sie als reine Kontroll- und Überwachungssysteme genutzt werden. Die Nutzung als reines Kontrollinstrument wäre wohl kontraproduktiv. Aber auch in diesem Fall wäre die Zeiterfassung nicht die Ursache, sondern eher das Symptom einer Misstrauenskultur.

Präsenzorientierung

Gerade wenn Zeiterfassung nur an bestimmten Orten im Betrieb möglich ist, wird dadurch Präsenz im Betrieb implizit vorgegeben und hybrides Arbeiten eher unterbunden. In diesem Fall muss man sicherstellen, dass es mobile und einfach handzuhabende Möglichkeiten der Zeiterfassung gibt.

Zeit hamstern

Werden Arbeitszeitkonten in Verbindung mit einer Zeiterfassung schlecht definiert, gibt es das Risiko, dass ein Anreiz entsteht, unproduktive Arbeitszeit auf Zeitkonten aufzubauen, um dadurch Freizeitansprüche zu generieren. Dieser Anreiz zum „länger Bleiben“ bzw. „hamstern“ wird in Vertrauensarbeitszeitsystemen tatsächlich vermieden. Aber auch im Kontext einer Zeiterfassung kann dieses Risiko durch entsprechendes Design der Prozesse und der Zeitkonten deutlich reduziert werden.

Zeit- statt Ergebnisfokussierung

Wie bereits beschrieben, ist Zeit bei vielen Tätigkeiten ein nicht zu ignorierender Bestandteil der Bewertung von Produktivität. Aber zur Produktivität gehört eben nicht nur die eingesetzte Zeit, sondern auch das erzielte Ergebnis. Und es ist definitiv richtig, dass in vielen Unternehmen der Faktor Zeit überbewertet wird. Gerade wenn Anwesenheitszeit mit Arbeitszeit verwechselt wird und diejenigen befördert werden, die möglichst lange im Unternehmen anwesend sind und nicht die, die womöglich, mit weniger Zeitaufwand, die gleichen oder sogar bessere Ergebnisse erzielen.

Und ja, es ist richtig, dass dieses Risiko bei einer Zeiterfassung mit Zeitkonten größer ist als bei einer Vertrauensarbeitszeit. Am Ende ist es aber vor allem ein kulturelles Thema. Es spricht nichts dagegen, Zeiten zu erfassen und sich zusätzlich mit den erzielten Ergebnissen auseinanderzusetzen.

Fazit

Zeiterfassung ist per se weder gut noch schlecht oder automatisch letztes Jahrhundert. Genau wie bei jedem anderen System oder Modell kommt es auf die Intention bei der Nutzung und die jeweilige Ausgestaltung an. In einer Misstrauenskultur wird es als Kontroll- und Gängelungssystem missbraucht, in einer Vertrauenskultur als Unterstützungssystem für die Administration von flexiblen Arbeitszeitmodellen und die Einhaltung von Arbeitszeitgesetzen gesehen. Wie überall gibt es dabei Vor- und Nachteile, Chancen und Risiken und Konstellationen, für die sie geeigneter oder weniger geeignet ist.

Autor: Guido Zander, Geschäftsführender Partner, SSZ Beratung

(erschienen in HR Performance 3/2022)

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