„KI ist gekommen, um zu bleiben“ : Interview mit Matthias Seiller, Learning Specialist und Referent Weiterbildung bei DATEV eG
Begleitend zum Hype um ChatGPT wird natürlich sehr viel über KI-Erkennungstools gesprochen. Diese sind aber bei Weitem nicht ausgereift und erkennen KI-generierte Texte oder Inhalte nicht zuverlässig. Auch die Bias-Problematik, dass KI-Systeme diskriminierende Inhalte reproduzieren, weil sie nicht vorurteilsfrei trainiert wurden, werden Erkennungstools oder Filter nicht lösen können.
HR Performance: Brauchen wir in den Unternehmen mehr Weiterbildungen zum Thema Umgang mit KI? Oder wird der Mensch sie eh intuitiv nutzen?
Matthias Seiller: Wir haben uns daran gewöhnt, dass Internet-Dienste, wie Suchmaschinen, möglichst intuitiv von uns bedient werden können. Mit sehr wenigen Eingabe- oder Schlagwörtern können wir bereits das beste Ergebnis erzielen. Doch gerade generative KI-Systeme wie ChatGPT funktionieren so nicht mehr. Wir müssen uns bereits im Vorfeld genau überlegen, wie wir unsere Eingabe, auch Eingabeaufforderung oder Prompt genannt, formulieren, um eine gute Antwort vom KI-System zu erhalten. Je mehr spezifische Informationen und Anweisungen wir einem solchen System dabei mit auf den Weg geben, desto besser wird in der Regel das zurückgespielte Ergebnis. Das ist konträr dazu, wie wir Internet-Dienste bislang genutzt haben.
Das Prompten und wie Anweisungen (Prompts) idealerweise gebaut werden, müssen wir also erst erlenen. Das ist ähnlich wie beim Programmieren, bei dem im ersten Schritt eine Programmiersprache gelernt werden muss. Generative KI-Systeme sind sehr vergleichbar – nur dass die Programmierbefehle in natürliche Sprache übersetzt sind. Aus diesem Grund halte ich es für unbedingt notwendig, dass Mitarbeitende für den Umgang mit KI-Systemen zukunftssicher aufgestellt werden. Das kann über klassische Schulungen passieren. Doch vor allem ist wichtig, dass sie Freiräume zum Experimentieren bekommen.
Nicht alle Mitarbeitenden müssen aber gleich KI-Expertin oder Experte werden. Ein Grundverständnis zur Handhabung ist wichtig. Auch weil die Ergebnisse, die heutige generative KI-Systeme liefern, noch fehlerhaft sind. Sie funktionieren häufig als Black Box: Ich gebe vorne etwas ein und bekomme hinten ein Ergebnis zurückgespielt. Was dazwischen passiert, aus welchen Quellen sich die Antwort speist, bleibt intransparent. Mitarbeitende sollten daher mögliche Fehler erkennen und das Ergebnis unbedingt noch kritisch reflektieren können. Datenschutz, Sicherheit und Copyright sind weitere Themen, die es zu adressieren gilt. Unternehmen und Mitarbeitenden muss bewusst sein, dass die Sprachmodelle der Anbieter mit den Eingaben der Nutzenden weiter trainiert werden und damit als Input für künftige Antworten dienen können. Auch wenn beispielsweise ChatGPT mittlerweile eine Unternehmensversion angekündigt hat, bleibt abzuwarten, wie der Datenschutz geregelt wird.
HR Performance: Welche Formate eignen sich am besten, um Mitarbeitende zu sensibilisieren und zu schulen?
Seiller: Grundsätzlich sollten Unternehmen sich darauf einstellen, dass generative KI-Systeme disruptiv sind, also die Arbeit wie wir sie jetzt noch kennen, grundlegend verändern werden. Daher halte ich es für absolut notwendig, Mitarbeitende im Umgang mit KI frühzeitig weiterzubilden und entsprechende Leitplanken zur Nutzung aufzusetzen. Reine ChatGPT-Weiterbildungen können hier als Einstieg dienen. Dennoch sollte der Blick erweitert werden, welche derzeit verfügbaren Tools, zum Beispiel hybride oder bildgenerierende KI-Anwendungen, Mitarbeitende bei einer Aufgabe idealerweise unterstützen und wie sie diese nutzen können.
Wir bei DATEV haben unterschiedliche Informations- und (Selbst)Lernangebote zum Thema KI und Veranstaltungsformate entwickelt. In diesen Formaten informieren wir über die Grundlagen und öffnen Dialogräume, um Fragen aller Mitarbeitenden zu besprechen. Zum Beispiel diskutieren wir einmal im Monat im Rahmen einer Learning-Hour explizit zum Thema KI. Aus diesem Format sind bereits verschiedene Projekte entstanden und Mitarbeitende wurden für das Thema sensibilisiert, die sich sonst nicht damit befasst hätten. Ergänzend bieten wir Trainings an, die sich an spezielle Jobrollen richten wie unter anderem Requirement Engineers, Projektmanager und -Mangerinnen oder Führungskräfte. Der Austausch in speziellen DATEV-Formaten wie Learning Coffee sowie interne und externe Vortragsreihen ergänzen unser Schulungsangebot. Neben solchen niederschwelligen Weiterbildungsmöglichkeiten, die für alle Mitarbeitenden offen sind, rate ich auch dazu, dass Teams ihre eigenen Formate entwickeln. Sie können am besten einschätzen, bei welchen Tätigkeiten und Projekten sie von einer KI unterstützt werden könnten. Wir haben gesehen, dass es durchaus Sinn macht, Teams ihre eigenen Use Cases entwickeln zu lassen.
HR Performance: Mit KI lässt sich ein Anschreiben entwerfen, eine Karriere planen u. v. m. Führt das nicht immer weiter zu einer Vereinheitlichung? Und wie erkenne ich hinter all dem noch die persönliche Note des Menschen?
Seiller: Begleitend zum Hype um ChatGPT wird natürlich sehr viel über KI-Erkennungstools gesprochen. Diese sind aber bei Weitem nicht ausgereift und erkennen KI-generierte Texte oder Inhalte nicht zuverlässig. Auch die Bias-Problematik, dass KI-Systeme diskriminierende Inhalte reproduzieren, weil sie nicht vorurteilsfrei trainiert wurden, werden Erkennungstools oder Filter nicht lösen können. Zwar gibt es derzeit noch einen Wettlauf zwischen KI-Tools und Erkennungstools, letztere werden diesen aber wohl verlieren.
Aus meiner Sicht ist KI gekommen, um zu bleiben. Wir sollten uns daher darauf fokussieren, sie richtig zu nutzen, anstatt uns per se gegen ihren Einsatz zu entscheiden. Damit die persönliche Note eines Menschen weiterhin eine Rolle spielt, kann künftig vielleicht eben nicht mehr das ‘Was’, also die Hausarbeit, der Text oder Lebenslauf bewerten werden, sondern eher das ‘Wie’ – und damit der Prozess: Wie haben Mensch und KI-System zusammengearbeitet? So wird dann beurteilt, wie der Mensch das System eingesetzt und mit diesem gemeinsam das Endergebnis erzielt hat.
In bestimmten Situationen könnte auch der persönliche Auftritt stärker bewertet werden, wie es zum Beispiel in Bewerbungsgesprächen noch mehrheitlich der Fall ist. Und lassen Sie mich an dieser Stelle einhaken: Gerade Bewerbungsprozesse werden sich aus meiner Sicht stark durch KI verändern. Sie könnte dabei unterstützen, Karriereprofile von bereits bestehenden Mitarbeitenden zu analysieren und bereits im Unternehmen vorhandenes Potenzial aufzeigen. Offene Stellen würden also deutlich besser mit den vorhandenen Talenten gematcht, ohne neu rekrutieren zu müssen. Lebensläufe müssten dann auch nicht mehr visuell ansprechend aufbereitet sein, sondern so, dass sie von der KI gut gelesen und verarbeitet werden können. Die persönliche Note der Bewerbenden, die dann bisher in die visuelle Gestaltung des Lebenslaufes eingeflossen ist, spielt dann in diesem Fall gar keine Rolle mehr.
HR Performance: Tech-Vordenker im Silicon Valley stellen sich für jedes Kind einen KI-Tutor und später im Erwachsenenalter einen KI-basierten Coach vor. Sind nicht auch Begrenzungen beim Einsatz von KI zwingend notwendig und individuell entscheidbar?
Seiller: Ganz plakativ möchte ich betonen: Nur weil eine neue Technologie verfügbar ist, heißt das nicht automatisch, dass auch das Lernen besser wird. Aber dank KI haben wir die Chance, das Lernen zu flexibilisieren, zu demokratisieren und zu individualisieren. In einigen US-amerikanischen Bildungseinrichtungen wird bereits ein KI-gestützter Tutor, ein sogenannter educational Bot, eingesetzt. Dieser persönliche Bot interagiert mit den Lernenden, gibt ihnen aber nicht die richtige Antwort vor, sondern führt sie durch den Problemlösungsprozess durch. Ziel ist es, dass die Lernenden selbst die richtige Antwort finden und dabei Lernkompetenz erwerben.
Trotz dieser Vorteile, die KI bieten kann, sollte die soziale Komponente beim Lernprozess nicht unterschätzen werden. Es braucht weiterhin einen Rahmen für soziales Lernen im Team oder in der Gruppe. Arbeitsgruppen sind für viele Menschen erwiesenermaßen eine sehr effektive Lernmethode. Denn wenn ich anderen Menschen einen Sachverhalt erklären kann, habe ich es meistens auch selbst verstanden. Gerade bei sozialen und empathischen Aspekten wie beispielsweise Demotivation oder Frustration im Lernprozess können andere Menschen heute noch besser unterstützen als eine Maschine. Daher halte ich die Kombination aus KI-gestütztem Lernen und Teamlernen künftig für erfolgsentscheidend – sofern eben die noch offenen Fragen nach Ethik und Datenschutz souverän beantwortet werden.
HR Performance: Worin ist die KI besser als der Mensch (im Bildungsbereich)?
Seiller: Lehrende können sich naturgemäß vor allem in einer größeren Klasse oder Lerngruppe nicht um jeden Einzelnen individuell kümmern. Ressourcen- und Fachkräftemangel verschärfen die Problematik. KI- Lernplattformen können die Wissensweitergabe aber stark skalieren, indem sie sich wiederholende Prozesse oder Routineaufgaben übernehmen. Also beispielsweise Lernenden erklären, was ein Integral ist oder wie Photosynthese funktioniert. Das entlastet Lehrende wiederum, weil sie sich statt auf die zeitintensive Wissensvermittlung darauf konzentrieren, warum einer Person eine Aufgabe oder das Verstehen schwerfällt. Adaptive KI-Lernsysteme können sich außerdem an das Lerntempo von Lernenden anpassen und sofort Feedback geben – ohne auf die Lehrkraft warten zu müssen. KI kann also zeit- und ortsunabhängiges Lernen im eigenen Tempo ermöglichen.
Lehrende werden aber keinesfalls überflüssig, sondern können durch KI in ihrer Tätigkeit unterstützt und entlastet werden. Das wiederum schafft mehr Freiraum, Lernende individuell zu betreuen. KI könnte somit den Prozess beschleunigen, dass sich Lehrkräfte weg von der überwiegenden Wissensvermittlung hin zu Lernprozessgestaltenden entwickeln. Sie könnten sich also verstärkt darauf fokussieren, bei Lernenden kritisches Denken zu fördern, wie sie Informationen bewerten und sich Wissen eigenständig mit Hilfe von KI aneignen.
HR Performance: Was ist für Sie persönlich das sinnvollste Einsatzgebiet (im Bildungsbereich) von KI?
Seiller: Gerade in personalisiertem Lernen sehe ich großes Potenzial. KI kann dabei unterstützen, ein individuelles, also auf jeden Lernenden zugeschnittenes Lernerlebnis zu ermöglichen, anstatt allen ein vereinheitlichtes Lernangebot überzustülpen. Gehen wir davon aus, dass nur 10 Prozent des Lernens in formalen Trainings passiert, 70 Prozent während der Arbeitszeit – also Learning by Doing – und 20 Prozent im sozialen Austausch, dann können Tools wie ChatGPT das Lernen bei der Arbeit fördern und unterstützen. KI kann durch die Personalisierungsmöglichkeit also eine stärkere Integration des Lernens in die Arbeitswelt erzielen. Erste Unternehmen setzen KI zur internen Wissensvermittlung bereits ein.
Für mich bleibt dabei die Kombination aus Mensch und Maschine vielversprechend. Bildlich gesprochen, sehe ich KI-Tools in der Rolle eines Co-Piloten. Wir können ihn einsetzen, um sich wiederholende Routineaufgaben auszulagern und damit unsere kognitiven Kapazitäten zu schonen. Dann wiederum haben wir mehr Zeit und Kapazitäten, die wir in andere, höherwertige Aufgaben investieren können. Ich glaube, dass KI so die Produktivität steigern kann, während der Mensch in der Pilotenrolle die KI entsprechend steuert.
HR Performance: Herr Seiller, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Matthias Seiller, Learning Specialist und Referent Weiterbildung bei DATEV eG