Unternehmensmitbestimmung bei grenzüberschreitenden Umwandlungen: Ein komplexes Zusammenspiel der nationalen und europäischen Regeln.
Zum Anfang des Jahres 2023 traten in Deutschland umfangreiche Änderungen der Mitbestimmungsregelungen bei grenzüberschreitenden Umwandlungen in Kraft. Dieser Teil unserer Blogreihe ordnet das komplexe Zusammenspiel der nationalen und europäischen Unternehmensmitbestimmung bei grenzüberschreitenden Umwandlungen ein.
Europaweiter Rechtsrahmen für grenzüberschreitende Umwandlungsmaßnahmen
Zum 31. Januar 2023 mussten die Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) die Richtlinie (EU) 2019/2121 über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer auf Leitungsebene bei grenzüberschreitenden Umwandlungsmaßnahmen umsetzen.
Der Deutsche Bundestag verabschiedete hierfür das Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei grenzüberschreitendem Formwechsel und bei grenzüberschreitender Spaltung (MgFSG) und der Änderungen des Gesetzes über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei einer grenzüberschreitenden Verschmelzung (MgVG) sowie Änderungen des Umwandlungsgesetzes (UmwG). Auf einzelne Aspekte gehen wir im Rahmen unserer Blogserie ein.
Rückgriff auf das europäische Mitbestimmungsrecht
Eine zentrale Frage bei grenzüberschreitenden Umwandlungen von Unternehmen mit einer gewissen Zahl von (zuzurechnenden) Arbeitnehmern ist, ob, auf welcher Grundlage und in welcher Größe ein mitbestimmtes Aufsichtsorgan bei der umgewandelten Gesellschaft zu errichten ist.
Bei grenzüberschreitenden Umwandlungen gilt grundsätzlich das Sitzstaatsprinzip. Demnach ist das Mitbestimmungsrecht des Mitgliedsstaates maßgeblich, in der die hervorgehende Kapitalgesellschaft (nachfolgend Gesellschaft) ihren Satzungssitz haben wird (nachfolgend Zuzugsstaat). Bei Hereinumwandlungen nach Deutschland gelten also grundsätzlich insbesondere das Drittelbeteiligungsgesetz (DrittelbG) und das Mitbestimmungsgesetz (MitbestG). Das europäische Mitbestimmungsrecht des MgVG und MgFSG kann jedoch unter Umständen diese rein nationalen Gesetze vollständig verdrängen. Der Aufsichtsrat ist dann ausschließlich nach Maßgabe einer Beteiligungsvereinbarung oder auf Grundlage der gesetzlichen Auffanglösung des europäischen Mitbestimmungsrechts zu errichten. Auch wenn die Gesellschaft zukünftig in die Schwellenwerte der nationalen Mitbestimmung wächst, bleibt es dann grundsätzlich bei der europäischen Mitbestimmung kraft Vereinbarung oder kraft Gesetzes.
Anwendungsbereich des europäischen Mitbestimmungsrechts
In den nachfolgend genannten Fällen ist das europäische Mitbestimmungsrecht anzuwenden und verdrängt die nationalen Vorschriften:
- Der Umfang der Mitbestimmung in den Leitungsorganen der beteiligten Gesellschaften des Wegzugstaates verringert sich durch die Umwandlung.
- Das Mitbestimmungsrecht des Zuzugsstaates schließt Arbeitnehmer in Betrieben anderer Mitgliedstaaten von der Ausübung der Mitbestimmungsrechte aus.
- Mindestens eine der beteiligten Gesellschaften des Wegzugstaates hat in den sechs Monaten vor der Offenlegung des Umwandlungsplans eine durchschnittliche Zahl von Arbeitnehmern beschäftigt, die mindestens vier Fünfteln des im Recht des Mitgliedstaats dieser Gesellschaft festgelegten Schwellenwerts entspricht, der die unternehmerische Mitbestimmung der Arbeitnehmer auslöst (sog. „4/5-Regelung“).
Fall 2. ist bei Hereinumwandlungen nach Deutschland immer dann erfüllt, wenn eine Gesellschaft im Wegzugsstaat einer Form der Mitbestimmung unterliegt und Betriebe außerhalb Deutschlands hat. Denn nach den nationalen Vorschriften des DrittelbG und MitbestG können nur in Deutschland beschäftigte Arbeitnehmer an Aufsichtsratswahlen teilnehmen. Die Gesellschaft muss aber tatsächlich mitbestimmt sein, da der deutsche Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung von „mitbestimmten Gesellschaften“ spricht.
Die 4/5-Regelung (Fall 3.) soll eine Umwandlung kurz vor Erreichen der nationalen Schwellenwerte des Wegzugstaates erschweren, in dem sie dem europäischen Mitbestimmungsrecht bereits bei einem Erreichen von 4/5 des nationalen Schwellenwerts des Wegzugstaates zur Anwendung verhilft. Dies führt dazu, dass auch (noch) nicht mitbestimmte Gesellschaften Verhandlungen über die zukünftige Mitbestimmung einleiten müssen.
Einleitung der europäischen Mitbestimmung nach MgVG und MgFSG
Das Verfahren der europäischen Mitbestimmung nach MgVG und MgFSG ist weitestgehend an das aus der SE-Richtlinie und dem SE-Beteiligungsgesetz bekannte Beteiligungsverfahren angelehnt. Es beginnt mit der Information sämtlicher Arbeitnehmer (bzw. Arbeitnehmervertretungen) der beteiligten Gesellschaften durch die jeweiligen Unternehmensleitungen. Sie muss unverzüglich nach Offenlegung des Verschmelzungsplans bzw. Umwandlungsplans erfolgen und die für die Mitbestimmung wesentlichen Informationen enthalten. Diese umfassen insbesondere die Angabe der betroffenen Betriebe und der Gesamtzahl der betroffenen Arbeitnehmer. Das Verfahren ist auch für die gesellschaftsrechtlichen Vorgänge relevant: Denn seine Durchführung ist eine Voraussetzung für die Eintragung der Umwandlung in das Handelsregister.
Darüber hinaus fordert die Unternehmensleitung die Arbeitnehmer auf, ein sog. besonderes Verhandlungsgremiums (BVG) zu errichten. Das BVG setzt sich aus den Arbeitnehmervertretern aller beteiligten Mitgliedstaaten zusammen und übernimmt die Verhandlungen mit der Unternehmensleitung über die Beteiligungsvereinbarung der hervorgehenden Gesellschaft.
Europäische Mitbestimmung kraft Vereinbarung
Nach dem gesetzlichen Leitbild soll das europäische Mitbestimmungsverfahren grundsätzlich mit einer einvernehmlichen Beteiligungsvereinbarung (sog. „Mitbestimmung kraft Vereinbarung“) enden. Die Unternehmensleitung und das BVG können Art und Umfang der Mitbestimmung relativ frei vereinbaren. Die Auffanglösung, die Mitbestimmung kraft Gesetzes, greift dagegen nur, wenn die Verhandlungen scheitern oder deren Anwendung vollständig oder zum Teil vereinbart wird.
Bei grenzüberschreitenden Spaltungen und Formwechseln ist der Verhandlungsspielraum stark eingeschränkt, da eine Beteiligungsvereinbarung alle Komponenten der bestehenden Mitbestimmung der hervorgehenden Zuzugsgesellschaft zumindest im gleichen Ausmaß der Gesellschaft(en) des Wegzugsstaates wahren muss.
Der EuGH (Urteil v. 18. Oktober 2022 – C-677/20) hat erst kürzlich die Auffassung des BAG zur SE-Gründung im Wege eines Formwechsels bestätigt, wonach alle prägenden Komponenten der nationalen Mitbestimmung zwingend und somit nicht dispositiv seien. Konkret bestätigte der EuGH die Sitzgarantie der Gewerkschaften als eine prägende Komponente des MitbestG. Da die Regelungen zu grenzüberschreitenden Spaltungen und Formwechseln denen der SE-Gründung ähneln, stellt sich die Frage, ob diese EuGH-Rechtsprechung zukünftig nicht nur bei SE-Gründungen, sondern auch bei grenzüberschreitenden Heraus-Spaltungen und Formwechseln von mitbestimmten Gesellschaften aus Deutschland in einen anderen Mitgliedstaat zu beachten ist. Unklar ist dann z.B., ob von prägenden Komponenten des MitbestG wie etwa der Bestellungskompetenz des Aufsichtsrats hinsichtlich des Vorstands und der Geschäftsführung nach § 31 MitbestG, der Wahl des Aufsichtsratsvorsitzenden und dessen Stellvertreter sowie der Abstimmungsregelung des § 29 MitbestG und der Bestellung eines Arbeitsdirektors nach § 33 MitbestG abgewichen werden kann.
Bei grenzüberschreitenden Verschmelzungen lässt sich die Mitbestimmung dagegen weitestgehend frei vereinbaren. Hierbei kann von bestehenden Mitbestimmungsregelungen bzw. prägenden Komponenten abgewichen werden.
Europäische Mitbestimmung kraft Gesetzes
Die Mitbestimmung kraft Gesetzes verdrängt als Auffanglösung ebenfalls die nationalen Mitbestimmungsregelungen und greift in den folgenden Fällen ein:
- Die Leitungen der Unternehmen und das BVG vereinbaren die Anwendung der Mitbestimmung kraft Gesetzes.
- Innerhalb der gesetzlich festgelegten Verhandlungsfrist von sechs Monaten oder einem Jahr kommt es nicht zu einer Einigung.
- (Nur) Bei Verschmelzungen kann die Unternehmensleitung die Anwendung der gesetzlichen Auffanglösung einseitig beschließen, wenn mindestens eine der beteiligten Gesellschaften in irgendeiner Form mitbestimmt ist und diese Mitbestimmung mindestens ein Drittel der Gesamtzahl der Arbeitnehmer aller beteiligten Gesellschaften und deren Tochtergesellschaften umfasste.
Bei grenzüberschreitenden Verschmelzungen mitbestimmter Unternehmen kann die Unternehmensleitung somit vor der Einleitung von Verhandlungen beschließen, auf die Mitbestimmung kraft Vereinbarung zu verzichten, und so die bestehende Mitbestimmung grundsätzlich „einfrieren“, ohne sie mit den Arbeitnehmern zu verhandeln. Wenn die mitbestimmte Gesellschaft und deren Tochtergesellschaften aber weniger als ein Drittel aller beteiligten Arbeitnehmer umfassen oder das europäische Mitbestimmungsrecht ausschließlich aufgrund der 4/5-Regelung Anwendung findet, muss die Unternehmensleitung auch bei Verschmelzungen Verhandlungen mit dem BVG einleiten.
Bei Spaltungen und Formwechseln werden die bestehende Mitbestimmung und deren „prägende Komponenten“ immer auf die umgewandelte Gesellschaft übertragen. Das bestehende Mitbestimmungsniveau bzw. -regime wird somit „eingefroren“.
Beschluss des BVG: Rückfallen auf die nationale Mitbestimmung des Zuzugsstaates
Das BVG kann jederzeit mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder, die mindestens zwei Drittel der Arbeitnehmer vertreten, beschließen, die Verhandlungen nicht aufzunehmen oder abzubrechen, sodass das nationale Mitbestimmungsrecht des Zuzugsstaates der hervorgehenden Gesellschaft Anwendung findet. Dies kann bei Herein-Umwandlungen nach Deutschland zu einer Anwendung des DrittelbG oder MitbestG führen.
Bestandsschutz und nachfolgende Verhandlungen der Mitbestimmung
Die europäische Mitbestimmung der Gesellschaft ist bei allen Umwandlungsmaßnahmen zum Schutz der Mitbestimmungsrechte erneut zu verhandeln, wenn innerhalb von vier Jahren nach dem Wirksamwerden der Umwandlung weitere innerstaatliche oder grenzüberschreitende Umwandlungen erfolgen, vgl. §§30, 30a MgVG und §§ 32, 33 MgFSG.
Darüber hinaus sind bei Spaltungen und Formwechseln erneut Verhandlungen über die Mitbestimmung einzuleiten, wenn gegen das sog. Missbrauchsverbot verstoßen wurde, vgl. § 36 MgFSG.
Ein Missbrauch liegt insbesondere vor, wenn innerhalb von vier Jahren ab Wirksamwerden der grenzüberschreitenden Umwandlung strukturelle Änderungen erfolgen, die bewirken, dass ein Schwellenwert der Mitbestimmungsgesetze im Sitzstaat überschritten wird oder sonst Arbeitnehmern Mitbestimmungsrechte vorenthalten oder entzogen werden.
Diese Regelung stellt auf die nationalen Schwellenwerte im Sitzstaat ab, was nach der umgesetzten Umwandlungsrichtlinie nicht vorgesehen war. Die Orientierung an nationalen Schwellenwerten ist problematisch, da diese durch das europäische Mitbestimmungsrecht eigentlich verdrängt werden. Darüber hinaus bedient sich der deutsche Gesetzgeber an dem von der SE bekannten Konzept der „strukturellen Änderungen“, modifiziert dieses aber und gibt ihm eine andere Bedeutung. Nach der herrschenden Meinung sind „strukturelle Änderungen“ einer SE auf gründungsähnliche Vorgänge mit außerordentlichem Gewicht begrenzt (sog. korporative Akte). Dies sind vor allem nachfolgende Verschmelzungen unter Beteiligung der SE. Solche nachfolgenden Verschmelzungen sind in der Umwandlungsrichtlinie aber gesondert adressiert und mit den §§ 32, 33 MgFSG und §§30, 30a MgVG erfasst. Insoweit bleibt unklar, was unter strukturellen Änderungen im Sinne des § 36 MgFSG zu verstehen ist und es ist abzuwarten, wie die Rechtsprechung diese widersprüchliche Umsetzung bewerten wird.
Eine zu § 36 MgFSG vergleichbare Regelung für Verschmelzungen gibt es nicht.
Unsicherheiten auch bei Heraus-Umwandlungen
Bei Heraus-Umwandlungen erfolgt zukünftig eine Missbrauchskontrolle der deutschen Registergerichte im Rahmen der Ausstellung der sog. Rechtmäßigkeitsbescheinigung. Diese Bescheinigung ist Voraussetzung für den Abschluss des Umwandlungsvorgangs im Wegzugstaat/Zielstaat.
Die Missbrauchskontrolle ist einzuleiten, wenn das Registergericht Anhaltspunkte dafür sieht, dass die Umwandlungsmaßnahme zu „missbräuchlichen oder betrügerischen oder kriminellen Zwecken“ erfolgt. Ausdrücklich wird im deutschen Umwandlungsgesetz als Anwendungsfall nunmehr erwähnt, dass
[…] die Zahl der Arbeitnehmer mindestens vier Fünftel des für die Unternehmensmitbestimmung maßgeblichen Schwellenwerts beträgt, im Zielland keine Wertschöpfung erbracht wird und der Verwaltungssitz in Deutschland verbleibt […].
Die Regelung wurde bereits im Gesetzgebungsprozess kritisch gesehen: Zum einen dürfte eine solche Missbrauchskontrolle nicht von der europäischen Niederlassungsfreiheit gedeckt sein und wäre somit europarechtswidrig. Zum anderen wird diese Kontrolle für erhebliche Unsicherheiten bei grenzüberschreitenden Umwandlungsmaßnahmen sorgen, soweit die Beschäftigtenzahl der Gesellschaften bei vier Fünftel der nationalen Schwellenwerte des DrittelbG (400) und MitbestG (1600) liegt. Grundsätzlich hat das Registergericht innerhalb von drei Monaten über die Verschmelzungsbescheinigung zu entscheiden. Durch die Missbrauchskontrolle kann sich die maximale Verfahrensdauer um weitere drei Monate auf sechs Monate oder sogar noch weiter verlängern und im schlimmsten Fall an der verweigerten Rechtmäßigkeitsbescheinigung scheitern.
Evaluation der Richtlinie bis 2027
Bis zum 1. Februar 2027 wird die Kommission die Umwandlungsrichtlinie und deren Umsetzungen hinsichtlich der Mitbestimmung evaluieren und einen Bericht erstellen, in dem insbesondere die mögliche Notwendigkeit der Einführung eines harmonisierten Rahmens für die Vertretung von Arbeitnehmern im Verwaltungs- oder Aufsichtsorgan im Unionsrecht geprüft wird und dem gegebenenfalls ein Gesetzgebungsvorschlag beigefügt wird.
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